forscht // 12.08.2011

Trans kulturalitäts Identität

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Wer bin ich  – und wenn ja, wie viele? ist eine von dem deutschen Publizisten und Philosophen Richard David Precht formulierte Frage, die nicht nur 2009 als Buchtitel vom Platz 1 der SPIEGEL Bestseller-Liste herabblickend unsere Geister beschäftigte, sondern sich ein jeder von uns sicherlich schon des Öfteren gestellt hat. In unserem globalisierten Zeitalter und in einer Weltstadt, wie sie Hamburg darstellt, ist es insbesondere der von Precht nachgestellte Halbsatz („und wenn ja, wie viele?“), der die Frage nach dem Ich – nach der Identität – in das Licht und den Kontext einer Multikulti-Gesellschaft – so das politische Schlagwort – setzt. Man muss nicht erst in Gespräche mit anderen kommen, um zu registrieren, dass in Hamburg Menschen unterschiedlichster Nationen zusammenleben. Schaut man sich zum Beispiel in dem institutionalisierten Mikrokosmos namens Schule um, so fällt auf, dass unterschiedliche Kulturen, Religionen und Wertevorstellungen aufeinander prallen, dann aber auch ineinander übergehen, da die frühe Auseinandersetzung mit dem Fremden die Möglichkeit bietet, den eigenen Horizont zu erweitern – das Verhältnis des Eigenen zum Fremden und des Fremden zum Eigenen (in einem dynamischen Prozess) zu hinterfragen und zu überdenken. Weder die Schule, noch Hamburg, noch Deutschland können ergo als monokultureller Ort gedacht werden. Längst sollte im Umgang mit Menschen anderer Kulturen deutlich geworden sein, dass diese eben meist gar nicht einer bestimmten (fremden) Kultur zuzuordnen sind − wir allzu häufig von plakativen Stereotypen fehlgeleitet sind und wir selber auch gar nicht mal so deutsch sind, wie wir es vielleicht naiv annehmen: Wir tragen Kleidung englischer Labels, die in einem anderen Kontinent produziert werden, schauen uns amerikanische Filme an, essen chinesische Speisen, die dann aber auch irgendwie nicht wirklich chinesisch sind und sprechen in einem Kauderwelsch in ein finnisches Mobiltelefon, das trotz der Titulation „Handy“ dem angelsächsichen Raum fremd ist, hinein. Unzählige Beispiele dieser Art lassen sich nennen und sollten verdeutlichen, dass Grenzen zwischen Kulturen kaum noch zu ziehen und zu begründen sind, viele Menschen aber künstlich versuchen, solche aufrechtzuerhalten – vielleicht auch deshalb, weil sie so ihre Identität nicht in Frage stellen müssen. Stellen wir uns aber mutig der Aufgabe, das Fremde in uns selber aufzuspüren, wie es zum Beispiel Julia Kristeva in ihrem Werke Fremde sind wir uns selbst von uns einfordert, so erleben wir die Aufhebung von Dichotomien zwischen Kulturen, das Überwinden von Vorurteilen und unserem Geist erschließt sich dann auch das Konzept der transkulturellen Gesellschaft, welches ein weiterer (Kultur-)Philosoph – Wolfgang Welsch – in den 90-er Jahren als Gegenprogramm zum Konzept der Inter- und auch Multikulturalität formuliert hat. Welsch spricht sich gegen ein multikulturelles Denken in Inseln aus, da ein solches extremistische und fundamentalistische Tendenzen in unserer Gesellschaft unterstützt, so die Argumentation; Welsch denkt Kulturen nicht in Einheiten mit Grenzen, sondern als grenzüberschreitend und beruft sich hierbei u.a. auf den dynamischen Kulturbegriff, wie er von Wittgenstein etabliert wurde. Die theoretische Position von Welsch (auf kulturphilosophischer Seite) ist eine, die zeitgleich auch in der Literaturwissenschaft (u.a. von Edward W. Said) Ausdruck fand. Said machte bereits 1978 mit seinem bekanntesten Werk Orientalismus darauf aufmerksam, dass die Vorstellung einer Dichotomie zwischen Abendland und Morgenland in die Irre führt. Es ist – diesen Theoretikern zufolge – an der Zeit, anzuerkennen, dass eine rigorose Trennung zwischen dem Eigenen und dem Fremden nicht mehr möglich ist; man sollte vielmehr begreifen, dass auch das Ich transkulturell ist.

Kehren wir nach diesem kleinen theoretischen und historischen Exkurs zurück zu der eingangs gestellten Frage: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Auch wenn die Identität zu einem großen Teil durch unsere Familie und somit durch unsere Muttersprache gebildet wird bzw. geprägt ist, so nimmt meiner Meinung nach auch das Fremde – das Andere – (wenigstens in Bezug auf meine eigene Person) Einfluss auf die Identität. Neben mir der Latte Macchiato auf dem Tisch – er hat seinen Ursprung und seinen Namen aus Italien, besteht aber zu einem nicht geringen Teil aus Kaffeebohnen, die aus Mittelkolumbien kommen, wobei doch die Region Kaffa als Ursprungsland des Kaffees genannt wird – verwirrend. Grenzenlos ist Kaffee jedenfalls heutzutage verbreitet und erfreut sich hoher Beliebtheit und auch wenn es oberflächlich klingen mag, aber mein Ich ohne den Einfluss und den Genuss von Kaffee kann ich mir kaum noch denken. Kaffee gehört zu Sarah, wie der Weihnachtsbaum zum Weihnachtsfest – auch die Japaner stellen übrigens Weihnachtsbäume auf, wie uns der Essay Über das Holz von Tawada berichtet. Kaffee zu trinken ist für mich ein Ritual, wie es bei anderen das Beten ist − und selbst Gott beten wir an, obwohl wir uns nicht zwingend damit einer bestimmten Religion zuordnen. Oh mein Gott, das ist überflüssig! Grenzen sind überflüssig! Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Ich bin Sarah und heute bin ich viele kleine italienisch-kolumbianisch-äthiopische Kaffeeanteile und aus 10 000 meiner Hautporen strömt eine französische Duftnote, die umhüllt von einer Jacke eines schwedischen Textileinzelhandelsunternehmens (mit Produktion in der Türkei) ist. Ja, auch Kleidung, Parfum und Genussmittel haben Einfluss auf meine Identität. Auch meine Freundin hat es. Derya Mareike Toprak; sie sitzt mir gegenüber und trinkt Wasser aus den französischen Alpen. Sie kleckert. Sorry! Die französischen Alpen meiner deutsch-türkischen Freundin fließen zu meiner deutsch-italienisch-kolumbianisch-türkisch-äthiopischen Tischseiter herüber. Es zerfließt alles. Verschwimmt. Es ist transkulturell; wir beide sind es, und was bist Du?

Literaturverzeichnis

Kristeva, Julia (1990), Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S.209f.

Welsch, Wolfgang (1995), Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 45/1, S. 39-44.

Precht, Richard David (2007), Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?, München: Goldmann.

Said, Edward William (2009), Orientalismus, Frankfurt: Fischer.