forscht // 01.02.2015

„Ich bin im Innersten ein Ahasver.“

Marica Bodrožić‘ Das Gedächtnis der Libellen als Panoptikum transhistorischer Exilerfahrungen

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Mit dem ersten Teil ihrer Romantrilogie[1] legt die in Svib/Dalmatien geborene Schriftstellerin Marica Bodrožić 2010 einen autobiografisch grundierten und „verträumt mäandernde[n] Prosasturm vor“[2]. In einem inneren Monolog reflektiert eine junge Ich-Erzählerin namens Nadeshda eine gescheiterte Liebesbeziehung. Der Ort des Erzählens ist der Zug, ein Heterotopos, in dem das Denken „mit dem Rattern der Räder freier [wird], bis das Geräusch und die Gedanken ineinander verschmelzen“[3]. Wir erfahren von der Amour fou der bosnisch-kroatischen Erzählerin zu dem verheirateten Ilja, einem dank einer gewonnenen Green Card in Kalifornien promovierenden Ethnologen bosnisch-kroatisch-jüdisch-russischer Herkunft. Im Fokus des Textes steht zu Beginn das permanente Unterwegssein der Erzählfigur. Nadeshdas Herz „rast wie das eines gejagten Tieres“ (7): Ihr bisheriger Lebensweg erscheint kosmopolitisch − vom dalmatinischen Heimatdorf zum Studium nach New York, weiter, nach Paris, bevor ihr Berlin als potentieller Wohnort in den Sinn kommt, „weil dort die Mauer nicht mehr stand […]“ (195f.). Nadeshda sagt von sich selbst: „So schnell wie ich kann keiner Koffer packen. Einsame […] kennen sich mit allen Koffermarken aus.“ (26) Doch haftet diesem flexiblen Lebensstil und der Betrachtung der Reise als „die beste aller Heilmethoden“ (69) etwas Beunruhigendes an. Denn die wiederholte Selbstbeschreibung Nadeshdas als „Ahasver“ (vgl. 111 und 154) rekurriert nicht nur auf die christliche Legende vom verfluchten Ewigen Juden aus dem 13. Jahrhundert, die der Schriftsteller Stefan Heym mit seinem Roman Ahasver (1981) ins Mythische überhöht hat, sondern ebenso auf den antisemitisch-nationalsozialistischen Propagandafilm Der Ewige Jude (1940).[4] Dass Nadeshda nicht nur ihre Wohnorte ohne Wehmut wechselt, sondern auch ihren der Identifizierung und Individualisierung dienenden Vornamen – sogar über die Neuschöpfung eines Nachnamens philosophiert (vgl. 80f.) −, unterstreicht die nebulösen Züge dieser mehrdimensional und dynamisch angelegten Erzählfigur. „Wer bin ich? Ich heiße Nadeshda. Meinen Namen habe ich nicht von Nadeshda Mandelstam. […] [V]on meinen Eltern habe ich meinen Namen auch nicht bekommen. […] Ich selbst habe den neuen Namen für mich gefunden, damit ich diese Geschichte erzählen kann.“ (19) Wenn auch als beliebig und als nicht-referentiell ausgewählt markiert, lenkt der Name mit dem Verweis auf „Nadeshda Mandelstam“ die Aufmerksamkeit auf personelle und intertextuelle Referenzen. Denn: Nadeshda Mandelstam war die Ehefrau von Ossip Mandelstam, dem russisch-jüdischen Dichter, der in der Zeit nach der Oktoberrevolution im inneren Exil gelebt hat und während der Säuberungen Stalins aufgrund konterrevolutionärer Tätigkeiten zu fünf Jahren Arbeitslager in Wladiwostok verurteilt wurde, wo er 1938 starb. Über das Ehepaar Mandelstam hinaus finden in diesem Roman weitere Intellektuelle des 19. und 20. Jahrhunderts Erwähnung. Diese historischen Biografien weisen allesamt Erfahrungen von Exil, Vertreibung und/oder Gewaltherrschaft auf. Das „filigrane[] Textgewebe“[5] konfrontiert den Leser auf 252 Romanseiten mit mehr als einem Dutzend Namen von Exilanten und Emigranten. Neben Milan Kundera, Vladimir Nabokov, Joseph Brodsky, Joseph Roth, Danilo Kiš, Marc Chagall, Sigmund Freud, Stefan Heym, Marina Zwetajewa und Dževad Karahasan sind zudem biblische Motive (die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies) oder christliche Volkssagen (wie die vom Ewigen Juden) in den Text eingeschrieben. Somit greift der Text beeindruckend vielschichtige zeitliche und räumliche Dimensionen von Exilphänomenen auf. Erst über diese auf Exil fokussierte Intertextualtiät entfaltet der Text die ihn auszeichnende Tiefensemantik. Ein Panoptikum transhistorischer Exilerfahrungen entsteht in dem Text, der damit selbst zum Gedächtnisort wird. Die palimpsestartige Struktur des Textes unterfüttert die von Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein im Jahrbuch für Exilforschung 30 (2012) betonte Auffassung, dass sich der einzelne literarische Text

mithin immer schon in einem kollektiven literarischen Resonanzraum der Sprache(n) und Geschichte(n) des Exils [bewegt…]. Jeder literarische Text des Exils öffnet sich so gesehen vorausgehenden wie zeitgenössischen Exilnarrationen, jede literarische Verhandlung einer singulären Erfahrung erzählt zugleich auch von mindestens einer anderen[6].

Die Verschränkung der Biografie der Erzählfigur mit der von bekannten Exilanten und Emigranten ist als ein von der Romanfigur unternommener Versuch zu lesen, durch den Rekurs auf Vergangenes Erkenntnisse über die eigene Zeit zu gewinnen. Über die Beschreibungen des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens erinnert der Text an jene Menschen, die „nach dem Krieg wie kleine Vögel in der Heimatlosigkeit der Luft fliegen lernten“ (25). Das metaphorische Bild von in der Luft lebenden heimatlosen Ex-Jugoslawen liest sich als Parallele zur jüdischen Geschichte der Vertreibung, indem es die Metapher der ‚Luftmenschen‘ als Bebilderung der jüdischen Existenz in der Moderne aufruft.[7] Emphatisch verweist der Text immer wieder auf die als problematisch rezipierte heterogene ethnische Herkunft der mit den postjugoslawischen Kriegen heimatlos Gewordenen. So heißt es über die Figur der besten Freundin Arjeta, dass sie „[m]it einer kroatischen Mutter und einem kosovarisch-serbischen Vater […] zu den Menschen [gehöre], die beim Ausklang Jugoslawiens allein wegen ihrer Mischung keine feste Adresse mehr hatten“ (25). „Es war alles verdächtig, was in der Kriegs- und Nachkriegszeit nach Mehrzahl und Vielvölkerstaat aussah.“ (25) Auch die Begriffe ‚Mischehe‘ oder ‚Mischling‘ fungieren hier als Warnung und Erinnerung an eine nationalsozialistische Rhetorik. Mit dem Zerfall Jugoslawiens zerfiel auch eine Vielheit, die Nadeshda Heimat war.

Die Erzählerin arbeitet die häufig starr und statisch rezipierten Begriffe ‚Heimat‘ und ‚Exil‘ in ein in sich verschränktes und dynamisches persönliches Konstrukt ein.

Exil ist heute nicht das Fortgehen an sich, im Exil ist jeder, der in seiner Stadt nicht auf der Straße gegrüßt wird. Unsere Städte sind voll von Namenlosen, wir sind einander verdächtig, wenn wir uns in U-Bahnen und am Flughafen anlächeln. (251)

Nadeshda koppelt die Definition der Termini ‚Heimat‘ und ‚Exil‘ immer wieder auch an ihre Liebe zu Ilja: „Das Leben war Vaterland, Mutterland, das Leben war Elternland. Mein Ilja war Iljaland“ (45). Seine Figur fungiert als Katapult und Stichwortgeber für die Reflexionen Nadeshdas über ihr Leben. Ilja sei, so die Freundin Arjeta, Nadeshda ein „Synonym für […] Herkunft“ (102) und Nadeshda selbst konstatiert: „Ilja ist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David“ (9). Unmarkiert ist hier ein Zitat aus Ossip Mandelstams Briefen an seine Frau Nadeshda. Erst 160 Seiten später erschließt sich diese Beschreibung Iljas als Zitation aus Mandelstams Briefen durch die erneute, jetzt kursive Setzung. Die Erzählerin gesteht sich ein, dass ihr Name doch von Nadeshda Mandelstam inspiriert ist und betont, dass auch sie für jemanden, „sein Moskau und sein Rom und sein kleiner David“ (169) sein möchte.

Wenn Bodrožić Ilja Sätze des russisch-amerikanischen Literatur-Nobelpreisträgers Joseph Brodsky aus dessen Erinnerungen an Leningrad in den Mund legt, zeigt sich, dass Ilja nicht Nadeshdas einziges Synonym ist; vielmehr dienen ihr alle Exilanten der Welt als Stellvertreter ihrer eigenen Biografie. „Und dann sagte Ilja Sätze, die sich wie etwas aus dem Exil und mindestens wie etwas von Joseph Brodsky anhörten. Er wusste genau, was für eine Wirkung das auf mich hatte.“ (185)[8]

Diese Verortung in eine Exilgemeinschaft wird neben inter-exilischen Versatzstücken auch über Überlegungen zur Sprache hergestellt. Sprache wird als gemeinsames Ausdrucksmedium und eigentliche Heimat von Exilanten postuliert: „Ich muss mich zwischen den Buchstaben einrichten und mein Leben finden“ (80). Das begründet nicht nur, warum die Erzählerin den Beruf der Physikerin zugunsten der Schriftstellerei aufgibt, sondern erklärt damit auch, weshalb selbst Ilja neben seiner wissenschaftlichen Laufbahn Romane publiziert. Nadeshda hält diesbezüglich fest: „Immer wieder ist ein jüdisches Schicksal in seinen Geschichten untergebracht. Es ist eine Macke, die er hat und die er konsequent in den letzten sieben Büchern untergebracht hat.“ (187) Eine Macke, die mit ihrer Vernetzung transhistorischer und transkultureller Erfahrungen von Exil ein subtiles poetologisches Verfahren über das Exil selbst generiert – ganz so wie Bodrožić‘ Roman insgesamt.


[1] Der zweite Teil der Trilogie ist unter dem Titel Kirschholz und alte Gefühle 2012 ebenfalls bei Luchterhand erschienen.

[2] Klaus Hübner: Marica Bodrožić: Das Gedächtnis der Libellen [Rezension]. In: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas 6 (2011, Heft 4), S. 407-409; hier: S. 407f.

[3] Marica Bodrožić: Das Gedächtnis der Libellen. München 2010, S. 10. Im Folgenden in Klammern im Text zitiert.

[4] Der Ewige Jude (Regie: Fritz Hippler) wird als „der aggressivste Propagandafilm“ rezipiert. Vgl. Bernward Dörner Der Holocaust –die Endlösung der Judenfrage. In: Wolfgang Benz (Hg.): Vorurteil und Genozid. Ideologische Prämissen des Völkermords. Böhlau 2010, S. 97.

[5] Klaus Hübner: Marica Bodrožić: Das Gedächtnis der Libellen [Rezension]. In: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas 6 (2011, Heft 4), S. 407-409; hier: S. 408.

[6] Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein: Einleitung: Literatur und Exil. In: Jahrbuch für Exilforschung 30 (2013), S. 1-19; hier: S. 4f.

[7] Vgl. hierzu vor allem Nicolas Berg: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen 2008.

[8] Vgl. Joseph Brodsky: Erinnerungen an Leningrad. Aus dem Amerikanischen von Sylvia List und Marianne Frisch. München 1987, S. 8.