forscht // 28.03.2014

ÜberLeben im Exil.

Be-Deutungen des kulinarischen Diskurses in Ursula Krechels Roman Shanghai fern von wo

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1. Einleitung

Äpfel, Eier, ein Sack Mehl, Nüsse: daß die einfachen Dinge, die Lebensmittel Lebenstatsachen geworden waren. Daß die Hände arbeiteten (Backstube, Shanghai, 40 Grad) und der Kopf immer noch am Donaukanal spazierenging, daß die Hände in einer wilden Hast arbeiteten und doch vollkommen überlegt, koordiniert, war ein einfaches Mittel, der Sorge um den Sohn in England, der Sorge um die Eltern in Wien die Nahrung zu entziehen, eine Nahrung, die zehrte, die einen seelischen Haushalt auffraß. Daß es gut war, ein Ei an einem Schüsselrand aufzuschlagen und auf einen Mehlberg gleiten zu lassen, hätte Frau Tausig nicht erfahren, wenn sie nicht aus Wien vertrieben worden wäre. Und auch nicht, daß es gut war, für ihren Mann zu sorgen, wie ihr Mann früher für sie gesorgt hatte.[1]

Die Mehrfachbesetzung der Lebensmittel, die mit dem obigen Zitat aus Ursula Krechels 2008 erschienenen Roman Shanghai fern von wo eindrücklich in „sensibel durchkomponierter Art und Weise“ [2] aufgeführt ist, offenbart „die einfachen Dinge“ als mit Nietzsche gesprochen „allernächste Dinge“[3]. Das Essen – in der Kulinaristik[4] als „soziales Totalphänomen“[5] bezeichnet − fungiert in Krechels viel gelobtem Panorama[6] über das „Exil der kleinen Leute“[7] als „ein zentraler Imaginations-, Erinnerungs-, Bild- und Diskursgenerator“[8]. Diese Vielfachfunktion, die Teilhabe des kulinarischen Diskurses an solchen über Identität und Alterität, wird im obigen Textauszug durch die anaphorische Aneinanderreihung von Subjekt- und Objektsätzen kenntlich gemacht. Besonders auch der Konnex von Essen und Erkennen findet sich in dieser Textpassage wieder. Alois Wierlacher, der 1982 mit seiner Habilitationsschrift eine erste umfassende Analyse des Themenkomplexes Essen in deutschen Erzähltexten von Goethe bis Grass vorgelegt hat[9], sieht diesen Konnex nicht nur von derselben mythologischen Wurzel[10] beider Begriffe gebildet, sondern auch durch die gemeinsame ontologische Wurzel:

Kleinkinder nehmen unbekannte Gegenstände zur prüfenden Erkenntnis in den Mund und machen Essen und Erkennen als analoge Aneignungshandlungen deutlich, die an einen identischen Körper gebunden sind und nicht vertreten werden können […].[11]

Wenngleich die Romanfigur Franziska Tausig ihrer Exilsituation beim Backen einen Erkenntnisgewinn zuspricht, wirkt diese Szene auf den Leser doch zutiefst verstörend – scheinen die sehnsüchtigen Gedanken an den Sohn in England und die Eltern in der Heimat Österreich nicht nur psychisch unerträglich, sondern auch physisch aufgrund der 40 Grad heißen Umgebung. Doch gerade diese die Sinne gleichsam einbindende wie auch adressierende Szenerie macht mit ihrer Sprachmetaphorik die Eigentümlichkeiten des Exils deutlich. Das Exil „Shanghai justiert alles neu […]“[12], „[d]ie Tiefe d[ies]es Elends entfaltet sich in präzisen Charakterisierungen und der Beschreibung kleiner, eindrücklicher Szenen“[13].

Mit Szenen wie der eingangs zitierten stellt Krechel zugleich auch ihr textuelles Verfahren aus, Dokumentarisches und Fiktives ineinander übergehen zu lassen. Die Erzählung vom

Schicksal jener Emigranten, die zumeist ab 1939, als die Lage in Deutschland und dem ‚angeschlossenen‘ Österreich für die jüdischen Bewohner unaushaltbar wurde, die unsichere und gefahrvolle Reise in ein [fernes] Land antraten […,][14]

integriert historisches Material, das die Autorin in langjähriger Recherchearbeit zusammengetragen hat. Das Montageverfahren der „Archivarin des Verdrängten“[15] analysiert Henrike Walter in ihrem 2011 publizierten Aufsatz als „Mosaik von Bedeutung“[16]. Die fiktiven „sprachliche[n] Feinsinnigkeiten“[17], die Krechel den zitierten Textdokumenten gleich dem Würzen eines Gerichts hinzufügt, erzeugen „Bilder […] für das Unaussprechliche“[18]; sie enttarnen die Lebensmittel als „kulturelle Texte“[19]. Hierdurch, so meine These, wird das Existenzielle der Exilsituation überhaupt erst erzählbar – und für den Leser greifbar, der die 500 Seiten umfassende Lektüre wohl kaum absolviert, ohne selbst Nahrung zu sich zu nehmen, aber eben nicht wie Herr Tausig überlegen muss, wie er an Nahrung bekommt.

Die Törtchen, die seine Frau mitbringt, ißt er in kleinen Brocken, vogelkrumenleicht, sie erinnern ihn an etwas, das ohne viel Überlegen genossen werden konnte. Als Überlegen und Überleben noch weit entfernt voneinander waren und sich nicht überlappten. (SWO 509)

In der (Ver-)Sammlung von Exilgeschichten tritt das Thema Essen als das die Figuren verbindendes Element auf. Es wird insbesondere um das Ehepaar Tausig entfaltet; Franziska Tausig wurde bei Ankunft in Shanghai als „brauchbare Köchin eingestuft“ (SWO 22), worüber „ihr verschwitztes, verdrücktes Herz […] einen Freudensprung [macht], den sie ihrem bekümmerten Mann nicht zeigen will“ (SWO 22). Ihre Backkunst ernährt fortwährend das Ehepaar: während „seine Frau buk, […] aß [er] das Gebackene, damit er bei Kräften blieb, um eines Tages seinen Sohn zu sehen“ (SWO 37). Solche Textpassagen legen es nahe, das Wort „Essen“ vom Lateinischen „esse“ (dt.: sein), abzuleiten. Ferner lässt sich das Essen als Fundamentalie des menschlichen Lebens an der Schnittstelle von Natur und Kultur verorten.[20] Und so werden auch im vorliegenden Roman nicht nur die körperlich-materiellen Aspekte des Essen dargestellt, sondern [immer wieder] auch die psychisch-soziokulturellen Aspekte benannt.[21] In der komplexen soziokulturellen Bedeutung, die das Essen in sich trägt, manifestieren sich nationale und regionale, ethnische sowie konfessionelle Zugehörigkeit. Was und wie gegessen wird, bezeugt darüber hinaus den sozialen Status, die Macht und Autorität des Essenden. Doch von dem Innehaben eines Status kann bezüglich der Shanghaier Exilanten mit Ausnahme von Franziska Tausig nicht gesprochen werden. „Das Exil in Shanghai bedeutete für die Flüchtlinge neben der Entbürgerung auch den Nullpunkt bzw. Anfang einer neuen Identitätsbildung“[22]. So scheint ein kulturell-sozialer Blick seitens der von Entbehrung gezeichneten Exilanten auf das Essen zunächst vollkommen ausgeschlossen, wird aber durch Frau Tausigs Arbeit als Bäckerin und ihren mit den Mitexilanten Lazarus und Brieger geteilten Traum von einem Wiener Kaffeehaus in Shanghai zumindest als Sehnsuchtsort eingeführt. Nicht nur an den von Hunger gezeichneten Körpern manifestiert sich der Mangel an Nahrung, auch die psychologische Konstitution wird von diesem gezeichnet:

Essen war auch immer Nahrung für die Psyche. Die deutsche Umgangssprache reflektiert diese Bedeutungsdimension im übertragenen Sinn mit. So schlägt Stress auf den Magen, die Liebe geht durch den Magen […][23]

und im Exil ist es die Sorge um die Angehörigen, die den seelischen Haushalt von Frau Tausig auffrisst (vgl. SWO 46). Mit der den Exilanten versagten körperlichen und seelischen Nahrung, die Krechel allen Figuren auf den Leib und in das Herz schreibt, setzt sich diese Arbeit im zweiten Kapitel auseinander. Unter Berufung auf den cultural turn in der Literaturwissenschaft und einer damit einhergehenden Öffnung zu anderen Wissenschaften wird versucht, das Sinnstiftungspotenzial des Kulturthemas Essen in Shanghai fern von wo aufzuschlüsseln. Dabei wird nach den Referenzbereichen und der ästhetischen Funktion der Zeichen gefragt, die im analysierten Text vom kulinarischen Diskurs produziert werden. Mit den fiktiven und nicht-fiktiven Szenen im Roman, die das Essen (direkt als vorhandene Lebensmittel oder indirekt als bloße Sehnsucht des Gaumens) thematisieren, trifft Krechel − so eine mit dieser Arbeit vorgelegte Deutung des kulinarischen Diskurses − auch eine Entscheidung darüber, wie das Exil in Shanghai erinnert werden soll. Inge Stephan befragt in einem Beitrag zu Bildern über das Shanghaier Exil in Literatur und Film Krechels Text nach dem Wie der Erinnerung, thematisiert folglich die Problematik der Darstellbarkeit des Holocaust.[24] Da in Shanghai fern von wo mit der Erzählstimme das „Anmaßende einer Identifikation“[25] vermieden wird, keine „einfühlende Fiktionalisierung“[26] vorliegt, betrachte ich die Fiktionalisierungen als unproblematisch. Vielmehr lassen sich die fiktiven Anteile des Romans“ im Anschluss an den von Aleida Assmann 1999 geprägten Begriff als „Gedächtnis-Kunst“[27] lesen. Gerade der fiktiv ausgestaltete kulinarische Diskurs ermöglicht sowohl die Erzählung vom Überleben als auch die über das Leben in Shanghai. Über das soziale Totalphänomen Essen kann der Blick der Figuren sowohl auf die verlorene Heimat als auch auf die gegenwärtige Fremde gerichtet werden, werden die daraus resultierenden Kulturkontakte über das Essen verhandelt und die Frühlingsrolle als hybrides Nahrungsmittel produziert. Die kulinarischen Selbst- und Fremdzuschreibungen werden im dritten Kapitel als Nexus von Essen und Identität behandelt. So zeigt sich, dass es nicht Frau Tausig ist, die den Apfelstrudel zum österreichischen Nationalgericht und Gaumenversprechen erklärt; Gerichte werden gerade auch vom fremden Blick zu Nationalgerichten stereotypisiert. Neben der Thematisierung der kulinarischen Früchte des Exils[28] wird das Backen von Frau Tausig auch als Möglichkeit besprochen, die in der Heimat tradierten Rollenverhältnisse aufzubrechen. Die Schlussbetrachtung macht deutlich, dass sich der Blick auf die Darstellung von Essen in der Literatur lohnt, da

Essen als individueller und kollektiver, privater und öffentlicher Verhaltens-, Kommunikations-, Wert-, Symbol- und Handlungsbereich den ganzen Menschen betrifft und so eng mit unserem jeweiligen Kommunikationssystem in Alltag und Festtag verbunden ist […][29].

 

2. Überlebenskampf: Versagte körperliche und seelische Nahrung

Do not over-eat, especially at mid-day. You need less food in the summer than you do in the winter. […] Do not over-eat (SWO 110f.), rezitiert der Erzähler die Anweisungen, die der Kunsthistoriker Brieger auf einem Stück Zettel während seiner Überfahrt nach Shanghai in die Hand gedrückt bekommen hat. Doch zu einem Übermaß an Nahrung „war es, seit er in Shanghai war, glücklicherweise nie gekommen“ (SWO 110f.). „Jeder Tag war ein Überlebenstag.“ (SWO 280) Shanghai, das „Moloch von Stadt“ (SWO 106) ist für die Exilanten „[g]roß und unbegreiflich“ (SWO 106). Trotz Briegers Arbeitslust scheint es der Figur schier unmöglich, in der Stadt der Widersprüche Geld zu verdienen, was folgender Textauszug veranschaulicht:

Wenn man sich die Fingernägel abschnitt und sie jahrelang systematisch sammelte, hätte man in Shanghai ein Geschäft daraus machen können, das immerhin für ein paar Schalen Tee ausreichte [,] (SWO 110)

Die Verwendung des Konjunktives zeigt an, dass jegliche Überlegung, das Überleben zu sichern, nur eine Möglichkeit darstellt, keine Sicherheit, keine Garantie ist.

Das Leben im Exil offenbart die „Erniedrigung des Kopfes durch den Bauch“[30]. Hunger ist ein ständiger Begleiter, er stellt – wie auch die Liebe – „eine chronische Kränkung der rationalen Souveränität des Menschen dar“[31], so der Schweizer Germanist Peter von Matt. Sich vom Hunger getrieben und gezeichnet in eine Schlange zur Essenausgabe anzustellen, kränkt nicht nur die rationale Souveränität, sondern lässt die Exilanten Schamgefühle empfinden:

Da sahen die Shanghailander – so nannten sich die alteingesessenen weißen Bewohner Shanghais – die noch sehr gut, eben europäisch gekleideten Menschen in der Reihe stehen, um einen Teller Bohnen oder Maisbrei zu bekommen. Scham in ihren Gesichtern, Scham, ihnen zuzusehen. Die Shanghailander sahen lieber weg. (SWO 28)

Doch Raum für diese Scham bleibt im gnadenlosen Überlebenskampf nicht; das Motto „[f]riß oder stirb“ (SWO 27) gilt vom ersten Tag an für die Exilanten, deren Heime „in den ärmsten Teilen Shanghais eingerichtet w[u]rden“ (SWO 27). Während dieser ersten Tage wird seitens des Erzählers von einem „böse[n] Erwachen wie aus einem schlechten Traum im Saal der hustenden, schlurfenden, schwitzenden [Exilanten]“ (SWO 29) berichtet. Beim Frühstück wird durch vorgespielten Optimismus versucht, das Gegenüber aufzubauen. Herr Tausig „trank ein Täßchen Tee, das ein Blechbecher Tee war, aß ein Stück Gebäck, das schmalzig schmeckte, in das seine Frau aber optimistisch und tatkräftig hineinbiß […]“ (SWO 29f.). Diese von Frau Tausig entwickelte und aufgesetzte Maske, so zu tun, als hätte man die Nacht „in einem einigermaßen bürgerlichen Etablissement“ (SWO 30) verbracht, deutet schon zu Beginn des Romans jene Frau Tausigs Fähigkeiten an, die ihr noch später von großem Nutzen sein sollen.

Einzig Erfindungsgeist, ein rascher Blick für noch die ungewöhnlichsten Verdienstmöglichkeiten und die Begabung, Gefahren jeder Art aus dem Wege zu gehen, boten die Chance, in diesem Moloch der Widersprüche und Bedrohungen zu überleben […][32],

konstatiert Henrike Walter in ihrem Forschungsbeitrag. Herr Tausig verfügt im Gegensatz zu seiner Ehefrau über keinen raschen Blick für Aktionen dieser Art. Dies stellt Krechel insbesondere mit der Schilderung des Verschenkens von nicht verkauften Backwaren heraus. Zu Beginn der Arbeit von Frau Tausig als Bäckerin, mit der die Erlaubnis einhergeht, am Abend übrig gebliebene Kuchenreste mitzunehmen, verschenkt auch Frau Tausig zunächst noch Kuchen,

bis ihr jemand sagte: Sind Sie denn wahnsinnig? Was haben Sie zu verschenken? Nichts haben Sie zu verschenken. Die Kuchenstücke lassen sich gut und gern verkaufen. Frau Tausig war erstaunt, beinahe aufgeschreckt. Das mußte sie sich sagen lassen, und sie ließ es nicht zweimal sagen. (Gesagt, getan, hieß es im Märchen.) Und es war auch märchenhaft: etwas, das morgen verdorben gewesen wäre, heute noch rasch zu einem guten Preis zu verkaufen. (SWO 38)

Wo Frau Tausig im Exil lernt, „die eigene Gutherzigkeit [zu] unterdrücken“ (SWO 39), hält Herr Tausig sich „nicht an die Regeln, er schenkt[] weiter den Chinesenkindern das Brot […]. Zu was war es gut? ‚Master Bread‘ nannten sie ihn und schütteten sich aus vor Lachen“ (SWO 39) und „[s]chon am Nachmittag lungerten die Kinder herum, hungrig warteten sie auf eine Fütterung. Wie im Zoo, Herr Tausig konnte nicht umhin, so zu denken“ (SWO 40). Es ist die Dürftigkeit des Exillebens, das Knurren des leeren Magens – eine Art Dauerrauschen des Exils −, das die Figuren zu Mensch-Tier-Vergleichen animiert. Das Nachdenken über ihre Misere produziert vor dem inneren Auge zugleich auch Bilder von Nahrungsmitteln, die im Shanghaier Exil nicht zur Verfügung stehen; so denkt Herr Rosenbaum an Radieschen, an „ihr leuchtendes Rot, das er in Shanghai noch nie gesehen hatte“ (SWO 193), „Rettiche, die es in Hülle und Fülle in Shanghai gab, interessierten ihn nicht, zu weiß, zu lang, zu langweilig“ (SWO 193). Mit der Thematisierung fehlender Nahrung geht auch eine kritische Betrachtung des Nahrungsangebots einher:

Das Essen war sehr knapp, und was es gab, war sehr ungewohnt, vielleicht auch ungesund für ein kleines Kind, meinten Amy und er, Kürbis und Reisbrei und weiße Stengelchen vom Bambus, an denen Peter lutschte. (SWO 201)

Wo das Rosenbaumbaby noch angewiesen ist auf die Nahrungszufuhr durch die Eltern, hat die Nahrungsarmut die anderen Exilkinder schon zu kleinen Dieben werden lassen:

Die Kinder des Uhrmachers Kronheim waren geschickt im Angeln und Organisieren von Lebensmitteln. Anne erkundete eine Situation, und Ernst raste bei einem Händler vorbei, streckte eine Handvoll Pflaumen, einen Apfel oder einen dumpling unters Hemd. (SWO 201f.)

Essen im Shanghaier Exil ist meist kein Genusserlebnis. Dass das, was genossen oder eben verabscheut wird, Ergebnis kultureller Zuschreibungen ist, an denen sich die Esser orientieren und die sie weitestgehend übernehmen, zeigt eine weitere Szene in einer der Schlangen bei der Essensausgabe:

[Ü]ber den Kürbis-Klößchen, die an der Essensausgabe auf die Blechteller geklatscht worden waren, [lag] ein so untröstlicher Glanz, ein Schwitzen, Ausdünsten, Fett, in dem die Fruchtstücke gewälzt worden waren, um ihnen einen größeren Nährwert zu geben, ein fettiger Film, der den Ekel nicht aufwiegen konnte, den der Geruch von Bohnenquark und fauligen Fischen verströmte. (SWO 155)

Bohnenquark und Fisch ekelt die Exilanten nicht nur ob der Faulheit an, sondern wird per se als fremdartige Speise rezipiert und damit als potenzielles Genusserlebnis ausgeschlossen. Speisen können Widerwillen hervorrufen; ob essbar oder nicht-essbar ist bis auf wenige Ausnahmen keine natürlich festgelegte, sondern kulturell erzeugte − vom Menschen erschaffene – Differenz.[33]

Die Unterscheidung in essbar und nicht essbar bringt eine kulturelle Ordnung in das natürliche Nahrungsangebot, indem den einzelnen Pflanzen und Tieren kulturelle Bedeutungen zugewiesen werden, die zumeist qualitative Eigenschaften und Merkmale hervorheben oder zuschreiben.[34]

Eine gleichbleibende Qualität der Lebensmittel ist in Shanghai jedoch in keiner Weise gegeben oder vorauszusetzen, sie gleicht einem Lotteriespiel, bei dem sich manche Eier als Niete und manche als Glückslos offenbaren: „Eier wurden verkauft, frisch oder halb verfault, man sah es ihnen nicht an, man mußte dem Eierhändler trauen. „Manche aßen die Eier roh mit Schalen, damit kein Nährstoff verlorenging.“ (SWO 275) Dass noch versucht wird, die einfachsten Dinge als potenziell den Gaumen reizende Nahrungsmittel zu imaginieren, zeigt sich am Beispiel Wasser:

Heißes Wasser wurde in großen Gefäßen transportiert und durfte nicht verschüttet werden, weißer Tee, so hieß das Getränk, an dem man nippte, wenn das Geld nicht für Teeblätter reichte. (SWO 275)

Das Verlangen nach den in Shanghai versagten Lebensmitteln und eine Imagination ebendieser geht soweit, dass für den Kunsthistoriker Brieger ein kleines Kästchen aus der Tang-Zeit zur Projektionsfläche seiner kulinarischen Sehnsucht nach Margarine wird.

Wenn er an das würfelförmige Kästchen dachte, kam ihm als erstes in den Sinn: Es ist genauso groß wie ein Margerinewürfel. Er dachte an ein dick mit Margerine beschmiertes Brot in seiner blau und weiß gefliesten Küche in Berlin, er dachte an einen Margerinewürfel, den eine plötzliche Eßgier aus der Verpackung schälte, er dachte nicht an den Hunger und die schlechte Ernährung, an den Mangel, er dachte an das Fettige, an dem billigen Würfel, das Papier, aus dessen Falten man den Rest der Margerine herausschabte. Er träumte in Wirklichkeit vom Essen, während er glaubte, an ein antikes Kästchen zu denken. Mit Recht fürchtete er, sich selbst nicht mehr trauen zu können, fürchtete, daß die Unterernährung seinen Blick – und sein Blick war sein Verstand – längst getrübt hatte. […] Alles verflüssigte sich. [… E]in Brot von einem großen Laib abzusäbeln, mit der Breitseite des Messerrücken langsam eine Schicht Margerine von dem Fettblock abzuheben und zu verstreichen –, all das schien ihm überaus genußvoll. Überwältigend. (SWO 311)

Wenngleich diese Szene insbesondere die Angst vor psychischen Erkrankungen exemplifiziert, erfährt der Leser vor allem auch von den körperlichen Erkrankungen. Dass viele Exilanten durch die Mangelernährung ihre Zeugungsfähigkeit einbüßten, erfährt der Leser erst durch den Bericht von der verbesserten Nahrungsmittelzufuhr am Ende des Romans – also durch ein anachronisches Erzählen am Ende des Romans.

[S]tatistisch gesehen sei die Sterilität im Abnehmen begriffen. […] Die vielen Frauen, die uns […] mit einer lang ersehnten Schwangerschaft überraschten, haben sicher mit der größeren Zufuhr an vitaminreicher Nahrung bei den Geschlechtern zu tun. Eine Entwicklung, die um so erfreulicher war, insofern auf diese Art und Weise der Überalterung der Emigranten und der jüdischen Rasse überhaupt entgegengewirkt werden konnte. (SWO 428)

Es zeigt sich, dass nicht nur das Leben jedes einzelnen Exilanten in Shanghai von dem Verlust von Identität gezeichnet war, sein Leben an einen Nullpunkt gekommen war, sondern die Exilgemeinschaft darüber hinaus nicht einmal mehr in der Lage gewesen ist, neues Leben zu zeugen. Obwohl „die [durch die] UNRAA und durch die IRO gewährte Ernährung […] ferner nicht nur dazu bei[trug], viele Emigranten von ihrem Untergewicht zu befreien, sondern ihnen auch erhöhte Abwehrkräfte gegen Infektionen zu verleihen […]“ (SWO 429), hat eine große Schiffladung Rollmöpse doch 1946 für eine weit verbreitete Leberegelerkrankung gesorgt. In solchen Textpassagen zeigt sich, dass Krechel das Sozialphänomen Essen durch das Wechselspiel von Mangel und Übermaß thematisiert, somit die Absurditäten des Exils belegt. So, wie die Rollmöpse die Exilanten erkranken lassen, weil diese das Produkt an sich und in diesem Maß nicht mehr gewohnt waren, ist auch Frau Tausig Auswahl und Vielzahl an Nahrungsmitteln nicht mehr gewohnt. Ihre Entscheidung für das ‚Lagern‘ der Lebensmittel zeigt auf, wie tief das Gefühl von Entbehrung bei den Exilanten verankert ist. Sie auch über das Exil hinaus begleiten wird.

Beim Abschiedsessen auf dem Schiff aß sie nur Reis, Salat, das Gefrorene. Ihr Viertel Hendl packte sie ein, sie wollte nicht mit leeren Händen vor ihrem Sohn stehen. Rasch leerte sie auch den Inhalt des Pfefferstreuers in ein Stückchen Papier, das sie zusammenknüllte. Sie hatte gehört, daß es in Österreich keine Gewürze gebe. Der Kapitän sah es und schenkte ihr eine ganze Tüte Pfeffer, genug für zehn Jahre. (SWO 481)

Die kulinarischen Entbehrungen machen es möglich, Frau Tausigs Apfelstrudel als „Lebensrettung“ (SWO 36) und als „Wunder“ (SWO 36) zu bezeichnen – als „große[s] Los“ (SWO 36). Dass ihre Backkunst ihr Exil demnach um eine entscheidende Dimension – nämlich um die (inter-)kulturelle – nicht nur für sich, sondern auch für ihre Mitexilanten bereichert hat, wird im folgenden Kapitel dargelegt.

 

3. Essen und Identität

Zahlreiche Verschränkungen der Begriffe Essen und Identität sind bereits herausgestellt worden. Das folgende Kapitel untersucht jedoch nicht, inwieweit Essen oder der Mangel am selbigen in Bezug auf das Überleben im Roman thematisiert wird, sondern fragt nach den Manifestationsformen von Identität, nationaler Zugehörigkeit und Interkulturalität im Essen oder durch das Essen. Als Genussversprechen und nationales Stereotyp ist der Apfelstrudel für den chinesischen Restaurantbesitzer von großer Bedeutung; er ist ihm Symbol für Österreich bzw. Europa. Frau Tausig hingegen bietet die selbst kreierte Frühlingsrolle – die als kulinarische Hybridität verhandelt wird – mehr Identifikationsfläche als der Apfelstrudel. Letzteren backt sie zunehmend immer mehr zugunsten des Umsatzes – wie überhaupt die ganze „Wiener Palette“ (37) −, während sie mit den Tausig-Törtchen ein Gebäck präferiert, dass sich durch die Verschränkung österreichischer Backkunst mit asiatischem Obst auszeichnet, folglich also tradierte Vorstellungen von Nationalgerichten unterläuft.

3.1 Heimatdiskurs

3.1.1 Kulinarisches Stereotyp: Der Apfelstrudel als Genussversprechen

Können Sie einen Apfelstrudel backen? Ich hörte, Sie sind Wienerin. […] Kommen Sie morgen in mein Restaurant, sagte der Mann. Wenn Sie einen Apfelstrudel backen können, einen anständigen Wiener Apfelstrudel, dann stelle ich Sie als Köchin ein. (SWO 24)

Die von einem chinesischen Restaurantführer aufgemachte Gleichung, dass mit der österreichischen Herkunft auch die Fähigkeit einhergeht, einen Apfelstrudel backen zu können, offenbart vertraute stereotype Denkmuster über Nationalspeisen. Der Apfelstrudel als Teil der ‚Wiener Küche‘ verweist auf die jahrhundertelange Herausbildung von sogenannten Nationalküchen, über die sowohl kulturelle Selbst- als auch Fremdbilder verhandelt werden. Das Wort „Küche“ ist nicht nur am Wohnraum und somit an ein Heim zu verorten – das meist in der Heimat steht −, sondern gibt auch darüber Auskunft, wie in der Küche gekocht wird. Küche in diesem zweiten Sinnverständnis betrifft und „transportiert ein komplexes kulturelles Regelwerk“[35]. Es lässt sich leicht erschließen, zu welchem Zweck Rezepte entstanden sind: das Gekochte wird auf sein Beikommen an das von Rezepten festgehaltene kulinarische Ideal geprüft. Küchen streben nach Geschmacksgleichheit, weil durch die Küche Identität ausgedrückt wird und erhalten bleibt. Küchen werden dazu instrumentalisiert, Menschen zu einigen und zu trennen; sie werden zu einem sozialen Phänomen. Soziale Qualitäten lassen sich deshalb so unhinterfragt auf die Küche übertragen, weil die Küche nicht nur dem Anspruch der Ernährung gerecht wird. Sie fungiert als Verständigungsmittel, durch das soziale Verhältnisse und Prozesse repräsentiert werden.[36]

Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss spricht sogar von einer „Sprache der Küche“, die gleichberechtigt neben einer „Sprache der Worte“ existiert, da in beiden Fällen gesellschaftliche Strukturen präsent sind. [37] Wenngleich der Apfelstrudel als Symbol für Österreich fungiert, entfaltet sich eine weitere Bedeutung seinerseits über seine Platzierung auf einem Tisch, an dem die Exilanten miteinander kommunizieren. Der Strudel ist ein Knotenpunkt der figuralen Beziehungen in Shanghai fern von wo – sowohl für die unter den Exilanten bestehenden Kontakte als auch für die interkulturellen im Restaurant und auf den Straßen Shanghais.

Die sogenannten Nationalküchen gelten in allen Gesellschaften als verfeinert und genussorientiert, werden gerade deshalb von professionellen Köchen zubereitet. Dass diese Betrachtung von Nationalküchen weltweit geteilt wird, zeigt sich am Verhalten des Restaurantbesitzers; er behauptet: „er habe eigens eine Wienerin kommen lassen, damit sie in seinem Restaurant Spezialitäten zubereitete […] (SWO 46). Diese Aussage wird getroffen, um dem Strudel als Symbol für Wien, Österreich oder vielmehr für alles Europäische die größtmögliche Authentizität zuzusprechen. Nationalküchen fungieren zugleich auch als politisch aufgeladene Machtkonstrukte: wenngleich der Neologismus „Mehlspeisenblick“ (SWO 45) für jeden Restaurantbesucher verwendet wird, der sehnsüchtig auf Frau Tausigs Mehlspeisen wartet, sind es solche Bezeichnungen, die in diskriminierender Weise Menschen anderer Kulturen über deren Speisen definieren. Komposita wie Spagettifresser, Froschfresser, Kartoffelkopf und Kümmeltürke

etikettieren Menschen gleicher nationaler Herkunft – unabhängig von sozialer, ethnischer und geschlechtlichtlicher Zugehörigkeit oder biografischen Kenntnissen – mit kulinarischen Stereotypen[38].

Gerade im Rekurs auf die Migrationsbewegungen im 20. und 21. Jahrhundert ist es aber zu einer Hybridisierung des Essens und der Esskultur gekommen. Ein ‚Einschließen‘ der Essensvorlieben in eine Herkunftskultur funktioniert demnach schon lange nicht mehr. Auch bei Frau Tausig nicht. So ist der Apfelstrudel ein Gericht, das Frau Tausig vornehmlich aus ihrer Kindheit kennt, das sie über Bilder der Handgriffe ihrer Mutter in der Küche zu erinnern versucht. Frau Tausig imitiert demzufolge mehr oder minder die von Expertise geprägten Handgriffe ihrer Mutter. Mit einem Rezept hätte wohl folglich auch der chinesische Restaurantbesitzer den Apfelstrudel backen können – oder auch nicht, weil

Apfelstrudel nun einmal [] launische Burschen sind […] mit einem eigenen Kopf, in dem sie Rosinen haben. Tief vergraben im warmen Backofenbauch lassen sie es sich wohlsein, während der Bäcker, die Bäckerin vor ihnen schwitzt und in die Knie geht (SWO 24).

Gebacken von einer ‚echten Wienerin‘ wird der Apfelstrudel für den Restaurantbesitzer zum Genussversprechen schlechthin.

Der Genuss ist ein Kind des Appetits und der an Freundlichkeit und Sympathie interessierten Kommunikationsbereitschaft. Er ist kein Sinn wie unsere fünf Sinne, sondern eine Handlung, genauer: der lustvolle Vollzug einer auf bestimmten Speisen und Getränke gerichteten Aneignungshandlung des Verzehrs aufgrund einer verknüpften sinnlichen, emotionalen, intellektuellen und anerkennenden Wahrnehmung. Im Unterschied zum Hunger realisiert sich der Genuss wie der Appetit als gerichtetes und in freier Selbstbestimmung […] vollzogenes Probieren (Kosten). Aufgezwungenen Genuss gibt es nicht.[39]

Dass der Apfelstrudel schmeckt, er sein Genussversprechen einhält, verschafft Franziska Tausig eine Festanstellung als Bäckerin. Sie selbst schreibt dem Geschmack des gelungenen Strudels weniger Bedeutung zu als dem Backvorgang. Das Backen gleicht einem Geburtsvorgang, bei dem Frau Tausig zwar thematisiert, dass „ihre ganze bürgerliche Existenz Schiffbruch erlitten hat[…]“ (SWO 31), sich aber während des Backens auf sich selbst und ihre gegenwärtige Existenz besinnt und beginnt, Äpfel zu schneiden und nicht in Gedanken an die bessere Vergangenheit zu versinken.

Wenn die Zukunft nicht eintrat, dehnte die Gegenwart sich aus. Die Gegenwart hieß: eine große Schürze umzubinden, ein stumpfes Messer in die Hand zu nehmen, […] sich über einen Korb mit Äpfeln zu beugen, sie zu schälen in einer rasanten Spirale, Schnitz für Schnitz fuhr die Klinge in die Apfelviertel und säbelte sie in feine Scheiben, schnitt so schnell, daß die Äpfel keine Zeit hatten, braun zu werden. (SWO 31)

Der Mensch als Überlebenskünstler ist ein in der Literatur tradiertes Motiv, das im Roman in leichter Abwandlung aufgegriffen wird: die Bezeichnung von Frau Tausig als „Zauberkünstlerin“, die nachfolgend belegt wird, zeigt, dass die jüdische Österreicherin sich dazu entschieden hat, ihr Exilleben im größtmöglichen Maße mitzubestimmen. Sie nimmt einen Kampf für ein besseres Leben auf. Dieser Kampf zeigt sich in ihrem Umgang mit dem Strudelteig wie folgt:

[S]ie mußte den Teig schlagen, schlagen, bis er Blasen warf, immer wieder nahm sie ihn auf und knallte ihn auf den Schüsselrand. Mehl klebte an den Händen und im Haar. […] Wie eine Zauberkünstlerin stand sie in der Restaurantküche, mit Händen, die, unter der Teigschicht verborgen, zerrten und zogen, tüpfelten, der Abdruck ihrer Fingerspitzen war auf der Teigoberfläche zu sehen, der Teig wurde dünner und dünner und die Fläche größer und größer. […] Man sah nicht richtig, was sie da tat in der Höhle unter dem Teig, sie zwickte ihn, sie zauselte, zerrte ihn von der Mitte zu den Rändern, damit er sich dehnte, sie verführte ihn zum Wachstum. […Er] [w]uchs und wuchs: nicht nur unter ihren Händen, sondern im Zelt, das der Teig bildete über ihren raschen Händen. Ja, es war ein Kunststück, das ihr da gelang. (SWO 32f.)

Obgleich das Backen von zahlreichen Unsicherheiten begleitet ist, Frau Tausig ob mangelnder englischer Sprachkenntnisse nicht weiß, wie sie nach einem Pinsel zum Bestreichen des Apfelstrudelteigs fragen soll, erkennt sie doch, dass sie in ihre Rolle als Bäckerin ebenso hineinwachsen kann wie eine Frau sonst in die Mutterrolle hineinwächst.

Auf das Tuch legte sie den Teig, verteilte die gezuckerten Apfelschnitze und die Rosinen und eine Prise Zimt darauf – das war der einfachste und befriedigendste Arbeitsgang – und dann faltete sie ihn mit Hilfe des Tuches übereinander, ja, es war nicht viel anders als ein Kind zu windeln, schlug die Enden des Teigpakets um, damit nichts zipfelte und gleichzeitig der Apfelsaft nicht heraussuppen konnte, jetzt war die Erinnerung an einen Kinderkörper ganz nah, an das Wickeln und Windeln ihres Sohnes, den sie so vermißte[.] […]. Mehlbestäubte Hände sind eine gute Vorsichtsmaßnahme gegen das Gefühl des Gestrandetseins, merkte sie zu ihrer Erleichterung […]. (SWO 35)

Das Gefühl, etwas Nützliches zu tun, wird unterstützt durch den freundlichen Umgang unter den Restaurantangestellten in der Küche miteinander, die Frau Tausig sogar Mut zusprechen.

Sie legte ihr Werk auf das eingefettete Backblech, schob es in den Ofen. Jetzt hieß es warten und beten […]. Man bot ihr eine Tasse Tee an, sie nippte an dem Tee, der bitter schmeckte, sie sah den Köchen zu, die Gemüse putzten und Reis in einem großen Topf kochten, das Messer, mit dem sie die Äpfel geschält hatte, lag noch auf dem Tisch, sie bot sich an, beim Gemüseputzen zu helfen, klack, klack, klack fuhr das Messer in die Kohlstrünke und hackte sie klein. Der Restaurantbesitzer sah es mit Wohlgefallen, die Frau konnte arbeiten und sah, wo gearbeitet werden mußte, ein Pluspunkt für sie. Frau Tausigs Nerven beruhigten sich dabei ein wenig, und der chinesische Koch lachte sie an und entblößte seine schiefen Zähne, zwischen denen die Zunge rosig herausdrängte. (SWO 35)

Wenngleich der Restaurantbesitzer die Wienerin Frau Tausig als Apfelstrudelbäckerin etikettiert, sie damit kulinarisch auf ihre Heimat festschreibt, führt Krechel dennoch vor, dass solch statische Betrachtungen von Heimat und Fremde nicht immer greifen. Der Apfelstrudel, in einem „magischen Akt“ (SWO 36) gebacken, ist für Frau Tausig „eine Lebensrettung“ (SWO 36), die ihr das Exil erträglicher macht; zusammen mit Lazarus und Brieger überlegt sie sogar, diesem Gefühl durch einen Ort größeren Raum zu geben. Das folgende Teilkapitel erläutert diesen Traum von einem eigenen (Kultur-)Raum der Exilanten.

3.1.2 Little Vienna in Shanghai

Es scheint in unseren kulturellen Kreisen nicht erklärungsbedürftig, dass man durch die Teilnahme an einer Mahlzeit zum Mitglied einer Gemeinschaft wird und dass gemeinsames Essen als Richtschnur für gelungene Sozialität gilt. Doch dass Menschen gemeinsam essen, ist keineswegs so selbstverständlich, wie man meinen könnte. Ganz im Gegenteil, es ist außerordentlich erklärungsbedürftig, denn:

[…] was ich denke, kann ich andere wissen lassen; was ich sehe, kann ich sie sehen lassen; was ich rede, können Hunderte hören – aber was der einzelne ißt, kann unter keinen Umständen ein anderer essen[40],

so der Philosoph und Soziologe Georg Simmel in „Soziologie der Mahlzeit“. Die Nahrungsaufnahme trennt die Menschen demzufolge eher voneinander, als dass sie sie verbindet. Gemeinsam ist ihnen hauptsächlich die geteilte Notwendigkeit, sich zu ernähren. Die kulturgeschichtliche Entwicklung hin zu gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten der Menschen ist als Versuch der Überwindung dieses Naturalismus gedeutet worden. Für Simmel schlägt die gemeinsam eingenommene Mahlzeit eine Brücke von der „so primitiv und niedrig gelegenen Tatsächlichkeit“, der physiologischen Notwendigkeit der Ernährung, „in die Sphäre des Geistigeren und Sinnvolleren“. Das hiermit aufgeworfene Bild der Brücke von der Natur zur Kultur lässt sich auch auf die von Krechel inszenierte Exilsituation in Shanghai übertragen. Mit dem Zusammenkommen der Exilanten zum Apfelstrudelessen bei Frau Tausig wird eine Brücke von der tristen und kulinarisch dürftigen Situation hin zu einem gemeinsam eingenommenen Mahl in vertrauensvoller Atmosphäre geschlagen. Begleitet bzw. grundlegend für diese Atmosphäre ist die geteilte Sprache und die Wertschätzung der Zusammenkunft seitens der Exilanten, die damit ihre ähnliche Sozialisation bekunden. „In dem Maße, in dem die Mahlzeit eine soziologische Angelegenheit wird, gestaltet sie sich stilisierter, ästhetischer, überindividuell regulierter“[41], so Simmel. Der Soziologe Norbert Elias spricht bei dem Phänomen der geteilten Mahlzeit vom Prozess der Zivilisation. Als Zivilisationsprozess kann auch die gemeinsame Mahlzeit der Exilanten gelesen werden: Das gemeinsame Verzehren des Strudels steht im krassen Kontrast zu den zu Anfang des Romans geschilderten Mahlzeiten im Heim, es macht das Exilleben „reicher und schöner“ (SWO 144).

Und Brieger hinter dem Vorhang weckte ihn [den Buchhändler Lazarus] durch lautes Rumpeln auf, indem er ihm mitteilte, daß sein Leben durch Apfelstrudel-Essen und die Bekanntschaft mit der Wiener Bäckerin reicher und schöner geworden sei. Lazarus fand diese Reihenfolge etwas merkwürdig, er war ein schlechter Esser. Na dann, sagte Lazarus und wickelte sich wieder in seine fransige Decke, die eigentlich auch ein Vorhang war, zu dem ein passendes Fenster fehlte. Gehen Sie doch morgen mit mir zur schönen Bäckerin, ich lade Sie ein. (SWO 144)

Der von Lazarus initiierte Besuch bei Frau Tausig bringt alle zusammen auf eine kreative Idee:

Lazarus […] blickte jetzt wieder Frau Tausig an und sagte plötzlich: Wissen Sie, was in diesem Restaurant eindeutig fehlt? […] Man müsse internationale Zeitungen auslegen, Zeitungen aus England und den Vereinigten Staaten, Zeitungen aus der Schweiz und schöne Modehefte aus Frankreich, das würde die Kundschaft anziehen, wäre die geeignete Beigabe zum Apfelstrudel, wenn die deutschen Zeitungen schon so abscheulich verlogen waren – und die österreichischen ebenso, ergänzte Frau Tausig. Man könne Kuchen essen oder eine Suppe und davor oder danach Tee trinken und eine Zeitung lesen, die man sich zu Hause nicht leistete. (SWO 151)

Die drei Exilanten erträumen sich ein „Little Vienna“ (SWO 152) in Shanghai. In dieser Sehnsucht manifestiert sich ein interessanter Nebeneffekt der Exilsituation: Aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse, „[a]bgeschnitten von der chinesischen Bevölkerung und den kosmopolitisch orientierten Kreisen in den ‚settlements‘[,] bauen sich die jüdischen Emigranten eine eigene Kommunikations- und Infrastruktur auf“[42]. Deutsch- und englischsprachige Zeitungen sollen die Exilanten mit Nachrichten versorgen, während bei Apfelstrudel und Nussmakronen über die Welt diskutiert werden kann. Doch ebendieser Traum wird von einem Feuer in selbiger Nacht zerstört: „Das Restaurant war in der Nacht abgebrannt, nur eine Ecke des Hauses war übriggeblieben.“ (SWO 154). Wenngleich der Traum vom Wiener Kaffeehaus im Shanghaier Exil zerstört wurde − und damit auch die Hoffnung auf ein Stück Heimat in der Fremde – erfährt der Leser gerade durch die Schilderung dieses Verlusts, dass Shanghai für Frau Tausig bereits ein Stück neue Heimat geworden ist. Zumindest gilt dieses Empfinden für den (interkulturellen) Mikrokosmos Restaurant, der mit Michel Foucault als Heterotopos gelesen werden kann. „Wie sie an Wien dachte, wie sie an Temesvar dachte, so dachte sie jetzt auch schon fast an die Küche, in der sie gestern noch gebacken hatte“ (SWO 159), so die explizite Analogsetzung von Herkunftsort(en) und Exilort.

3.1.3 Palatschinken: Die Einverleibung der Leibesspeise

„Was ist Tausig für ein Mensch? […] Kann man ihn verpflanzen?“ (SWO 7). Mit diesen Fragen wird Shanghai fern von wo eingeleitet. Die Fragen regen den Leser dazu an, sie auf sämtliche Romanfiguren zu übertragen – sind sie doch alle „verpflanzt“ worden. Nicht erst mit der Sterbeszene von Herrn Tausig kann man die Frage nach der Möglichkeit einer Verpflanzung beantworten. Schnell bemerkt der Leser, dass Herr Tausig angesichts seiner Berufslosigkeit im Exil in Apathie verfällt, alle enthusiastischen Versuche seiner Frau, ihm Leben einzuhauchen, ins Leere laufen. „Daß Tausig glaubte, man könne Recht sprechen und rechtlich empfinden, ein Recht durchsetzen mit Hilfe eines Anwalts, war nicht falsch“ (SWO 8), entpuppt sich in der Exilsituation jedoch als Utopie. An seiner Person zeigt sich, dass „[d]ie alte verlorene Identität und die neue erzwungene Identität […] entgegengesetzt [sind …]“ und Krisen verursachen. „Die alte [Identität] verteidigt sich gegen die neue und taucht in der wehmütigen Erinnerung an die Details und Kleinigkeiten der Heimat und Vergangenheit auf“[43]. Dass die Gedanken Tausigs im Exil von solchen Erinnerungen an Details der Heimat durchzogen sind, lässt sich insbesondere an seiner Sterbeszene erläutern. Mit der Sehnsucht nach Palatschinken als Gegenstand aus der Heimat wird versucht, in die Heimat ‚hinein zu sterben‘ oder doch zumindest in dem Gefühl zu sterben, der Heimat ganz nah zu sein. Die Einverleibung des Palatschinken ist letzter Versuch, dem Moloch Shanghai zu entkommen. Die im Exil entstandene Abhängigkeit Tausigs zu seiner Frau, die ihm liebevoll auch diese letzte Leibesspeise wortwörtlich zaubert, manifestiert sich im Akt des Fütterns.

In Anbetracht der ‚Ersatzprodukte‘, die Frau Tausig zum Backen wählen muss, fällt es nur schwer, sich den Palatschinken als genussvoll vorzustellen. Dass Sojamilch anstelle von Kuhmilch verwendet wird, offenbart bereits, dass alles bloß Imitation der Heimat ist und sich in dem Nationalgericht Österreichs in Shanghai zwangsläufig auch schon die Fremde in Form von anderer Milch offenbart.

Palatschinken, wimmerte Tausig. Sie hatte noch etwas Mehl und einige Eier, sie stolperte los, um einen Becher Sojamilch auszuleihen, irgendwann würde sie sich dafür revanchieren, sie buk Palatschinken, was heißt hier Palatschinken, das Mehl klumpte, Zucker, gar Puderzucker, war nicht vorhanden. In fliegender Eile rührte Frau Tausig einen Brei zusammen, er sah anders aus als ein Wiener Palatschinkenteig, als er dann in einem Pfännchen brutzelte, grauer, zäher. Palatschinken. Hauchte ihr Mann wieder. […] Das Fett, in dem sie die bläßliche Masse buk, war klebrig wie Vaseline und übelriechend. Der Mund ihres Mannes stand offen, weit offen wie bei einem jungen Vogel, sie stopfte winzige Bröckchen des gebackenen Teigs hinein, wartete, daß er kaute, er lutschte eher daran und schluckte. Wieder öffnete er den Mund, ließ ihn offen stehen, eine ganze Weile, auch die Augen waren offen, sie verstand nicht. (SWO 319f.)

Es zeigt sich auch in dieser letzten Sekunde seines Lebens, dass er eben nicht verpflanzbar ist im Gegensatz zu seiner Frau, Brieger oder Lazarus, er keinerlei Unternehmungen angestellt hat, der Fremde etwas Positives abzugewinnen.

3.2 Interkulturelle Dimension: Kulinarische Früchte des Exils

3.2.1 Kulinarische Hybridität: Die Frühlingsrolle

Franziska Tausig schreibt nach dem Tod ihres Mannes dem gemeinsamen Sohn in England weiter Briefe, versucht, das Leben im Exil als erträglich darzustellen. Dabei stellt sie die Überlegung an, ein Buch zu schreiben, die Trauer zu überwinden. Schmerzlich stellt sie jedoch fest:

Schreiben würde nicht helfen, wie das Sammeln von Postkarten, das Hüten von Dokumenten über eine ferne Kunstanstregung nicht wirklich half, wie das Backen von Apfelstrudeln nicht wirklich half, aber es gab eine Ordnung, ehe das, was eine Person ausmachte, zu zerbrechen drohte, und vielleicht half diese Ordnung auch gegen das Zerbrechen. (SWO 332)

Mit dieser Textpassage wird das hohe Maß an Selbstreflexion dieser Figur herausgestellt. Wenngleich das Backen sowie die von den anderen Figuren im Exil entwickelten Strategien zur psychischen Bewältigung der Situation sich als wenig hilfreich erweisen, schafft das Backen doch eine Ordnung, die es ermöglicht, Gefühle zu ordnen. Die Ordnung fungiert hier in gewisser Weise als Ausbruch – als Ausbruch aus den permanenten Gedanken an die Heimat und als Ausbruch aus dem Netz an begrenzten Möglichkeiten in Shanghai. Gerade die Deutung der Ordnung als Ausbruch macht es nachvollziehbar, Frau Tausigs Backprodukte als kreative Früchte des Exils zu lesen. So backt Frau Tausig nicht nur die von ihr verlangte „Wiener Palette“ (SWO 37), bestehend aus Apfel- und Mohnstrudel, Vanillekipferln und Nußmakronen (vgl. ebd.), sondern versucht sich auch an englischem Teekuchen – durchbricht hier bereits die ihr als Österreicherin aufgetragene Produktion der ihr zugeschriebenen Nationalspeisen.

Wie bereits manifestiert, ist Geschmack ein Ergebnis kultureller Zuschreibungen, an denen sich Esser orientieren. Dennoch können sich „die Genussvorlieben nicht nur historisch verändern, sondern sich ebenfalls im Lebenslauf wandeln“[44], womit in Ansätzen erklärt werden kann, wieso Frau Tausig aus den Strudelteigresten ein neues Gericht kreiert. Die Notwendigkeit des Exils, fremde Nahrungsmittel zu konsumieren, ermöglicht es auch, diese mit der Zeit als genussvoll zu empfinden. Wiederum zeigt sich in der Entwicklung der Frühlingsrolle und der Idee der Tausig-Törtchen Frau Tausigs Vermögen, mit den Gegebenheiten des Exils umzugehen, sie sich zu eigen zu machen. Unterstützend förderlich hierfür ist sich nicht zuletzt auch Frau Tausigs Wahrnehmung, dass ihre Herkunft im Exil ihr im Gegensatz zum Leben in Österreich seit Vormarsch der Nazis von Nutzen sein kann, wie die folgende Szene auf dem Shanghaier Markt belegt.

Frau Tausig, mit den Suppenköchen und dem Tragejungen frühmorgens über den Markt streunend, die Seltsamkeit bedenkend, daß ihre Herkunft, die noch vor einigen Monaten ein Unglück war oder vielleicht auch ein Unstern (später mit einem gelben Stern markiert war, Zeichen auf der Brust) ihr plötzlich Glück gebracht hatte: das Glück drehte sich, der Globus hatte sich gedreht, sie war in Wien aufgebrochen und in Shanghai gelandet, und nun hatte sie die Gewißheit, ein Wiener Apfelstrudel war gefragt, und sie, die Bäckerin des Strudels, war ebenso gefragt wie ihr Produkt oder noch mehr, ihr Erfindungsgeist war gefragt, erwünscht. (SWO 42)

Bestärkt von diesen Gedanken vertraut sie mehr denn je in ihren Instinkt, legt Gemüsereste auf die übriggebliebenen Teigreste und schlägt diese um „wie bei einer sehr kleinen Windel, ein zu windelndes Puppenkind, das sie wickelte und in die Wärme des Ofens schob“ (SWO 42). Mit diesem Experiment scheint für Frau Tausig eine entscheidende Hürde – die Frage nach der Absicherung der Existenz – genommen.

Wenngleich der Begriff „Hybridität“ in den letzten zwei Jahrzehnten im wissenschaftlichen Diskurs eine erstaunliche Konjunktur erfahren hat, die Kiê Nghi Hà treffend als „Hype um Hybridität“[45] herausgestellt hat, entpuppt sich dieser Terminus als überaus griffig für die Bezeichnung bzw. Deutung der Frühlingsrolle. Gerade auch die Analyse des Romans unter Berufung auf den cultural turn in der Literaturwissenschaft begründet die Verwendung dieses „Schlüsselbegriff[s] der Kulturwissenschaften“ [46], wie ihn Andreas Ackermann bezeichnet hat; sind doch bei der Erfindung der Frühlingsrolle Prozesse der Nachahmung, Aneignung, Verfremdung und Ähnlichkeit am Werk. Die Betrachtung der ‚kulinarischen Hybridität‘, für die ich mich hiermit ausspreche, stellt die Verbindung der Wörter „Nation“, „Küche“ und „Identität“ infrage bzw. legt nahe, diese angesichts der Entwicklung der Frühlingsrolle und auch der Tausig-Törtchen zu überdenken. Meine Analyse hält der Kritik von Homi K. Bhabha stand[47], dass Hybridität immer Gefahr laufe, ungenau und universalistisch entfaltet zu werden. Denn der Begriff wird nur zur Bezeichnung der beschriebenen kulinarischen Früchte des Exils vorgeschlagen, nicht einer Figur zugeschrieben.

Gerade auch bei der Namensfindung der Frühlingsrolle zeigt sich die interkulturelle Dimension des Exils, die der kulinarische Diskurs ermöglicht. „Es gab kein chinesisches Wort für Strudel und auch keine Vorstellung, was in einer kleinen Rolle eingewickelt sein könnte […]“ (SWO 44) und die deutsche Sprache wollte man nicht verwenden, denn der „Sprachschatz war annektiert“ (SWO 44).

Und jemand von den Essenden, den Genießenden, sagte mit einem ganz unchinesischen Pathos: Wir haben den Frühling gegessen, eingepackt in einen Teig. Das war ein schönes Bild, es war so schön, daß es nicht nur nach Shanghai paßte, es brachte die harte, energische Stadt zum Glänzen. Aber das Wort ‚Roulade‘ war ein unbekanntes, brüchiges Wort, jemand, vielleicht Rudi, versuchte es zu erklären, wickelte mit einer schnellen Geste den Zeigefinger der linken Hand um den der rechten. Man lachte verständnisvoll, nein, nicht Roulade, roll hieß das Wort des Tages. (SWO 44)

Der Einzug des Gerichts auf die Speisekarte des Restaurant wird als bedeutungsvolles Ereignis im Exilleben von Frau Tausig herausgestellt: der Frühling 1940 hatte einen „festgespannten Himmel und durchscheinende, wattige Wölkchen am Abend“ (SWO 45). Diese Beschreibung macht Shanghai bzw. das Exil zu einem Ort, der wieder überschaubar ist, dessen Größe einen nicht verängstigt, dessen Himmel man sehen kann, ein Ort, der nach oben hin offen ist, somit Bilder des Nach-den-Sterne-Greifens ebenso hervorruft wie Gefühle der Freiheit und Hoffnung.

3.2.2 Exil und Kreativität: Die Tausig-Törtchen

Neben der Frühlingsrolle manifestiert sich Frau Tausigs Kreativiät und ihr im Exil gewonnenes Selbstvertrauen in einer weiteren kulinarischen Idee, die kulinarisch Eigenes und chinesisch Fremdes in einem Törtchen fasst. Dass das Tausig-Törtchen bestehend aus einer Pflaume und einer Scheibe Ananas die Ananas als Garnierung wählt, ist insofern bemerkenswert, als dass Frau Tausig diese Frucht erst in Shanghai kennengelernt hat. Dass Frau Tausig sie verwendet unterstreicht die oben bereits ausgeführte Erkenntnis, dass der Geschmack des Menschen sich im Laufe seines Lebens wandelt – ehemals fremde und mit Ekelgefühlen verbundene Nahrungsmittel Teil der persönlichen Nahrungspalette werden können.

Es liegt nahe, die kulinarischen Errungenschaften von Frau Tausig als kulinarische Früchte des Exils zu deuten und ihnen zugleich einen hybriden Charakter zuzusprechen. „Das Exil, wie immer es auch geartet sein möge, Brutstätte für schöpferische Taten, für das Neue [ist]“[48], stellt der Schriftsteller und Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser in seinem Buch Von der Freiheit des Migranten heraus. Dass die Tausig-Törtchen einem schöpferischen Akt entsprungen sind, macht insbesondere die lange Schilderung dieser Idee im Traum von Frau Tausig deutlich:

In der Nacht träumte Frau Tausig, sie habe eine Erfindung gemacht, und sie war stolz darauf. In ihrem Traum bekam die Frühlingsrolle einen würdigen Nachfolger. Franziska Tausig hatte mit einem Messer, so groß wie eine Machete, einen Ananaskopf durchhauen. Sie hatte Scheiben von der Ananas abgesäbelt, was nicht leicht war, der Saft tropfte in ihre Ärmel. […] Sie hatte in der Tiefe der Backstube ein Restchen Mürbeteig aufgetrieben, aus dem Mürbeteig handtellergroße Blättchen ausgestochen und im Ofen goldbraun gebacken. Auf die ausgekühlte Teigplatte hatte sie jeweils eine Scheibe Ananas gelegt. Sie wußte das noch so gut am Morgen nach dem Aufwachen, als hätte sie es in einem Rezeptbuch gelesen. In die Vertiefung, dort wo sie den Strunk herausgeschnitten hatte, legte sie eine Pflaume – eine schöne sinnreiche Symmetrie. Das Ganze glasierte sie, damit es appetitlich glänzte. Und war im Traum hochzufrieden mit ihrer Bäckerei, sie lehnte sich zurück. […] Und sie sagte mit großem Selbstbewußtsein in ihrem Traum: Ein Tausig-Törtchen. (SWO 144f.)

 

3.3 Gender-Aspekte: Subversives Potenzial der Exilsituation

Nochmals auf Trojanow Bezug nehmend, kann man bei Frau Tausig von einer „doppelten Buchführung“[49] im Exil sprechen. Neben der Sehnsucht nach dem Sohn in England und Sorgen um die Eltern in Österreich steht ein Leben, das ihr einen noch nie gelebten Status zuspricht, nämlich den als arbeitende Frau. Auf doppelte Weise bricht das Exil in das Leben der Exilantin ein, bricht es aber auch auf. Frau Tausig, die ihre Rolle als nicht-arbeitende Ehefrau nie in Frage gestellt hat, vollzieht in der Exilsituation eine kleine unbewusste Revolution, die sie kaum benennen kann, als zunächst befremdend empfindet.

Alles rätselhaft. Franziska bekommt einen Schein in die Hand mit schwarzen Tuschefliegenbeinchen und ein Papier, auf das die Schreibmaschine C O O K gehackt hat, der Anschlag war so hart, daß das Papier gelocht wurde. Wo ein O war, konnte man den Himmel sehen. (SWO 22)

Dass „O O“ in „C O O K“ möchte ich hier als ein doppeltes Schlupfloch[50] lesen, denn in zweierlei Hinsicht verschafft Franziska Tausig der Beruf als Bäckerin ein Schlupfloch: erstens in finanzieller Hinsicht und zweitens, indem er ihr eine Möglichkeit bietet, die tradierten Rollenverhältnisse zwischen Mann und Frau zu unterlaufen. Es kann folglich von einem subversiven Potenzial der Exilerfahrung gesprochen werden. Dass die zwei „O“s mit einem solch kräftigen Anschlag auf das Blatt Papier gebracht worden sind, kann als Markierung gelesen werden, die Frau Tausig als Bäckerin auszeichnet. Diese Lesart ist insofern naheliegend, da Franziska Tausig nach ihrer Rückkehr nach Wien weiterhin als Köchin gearbeitet hat, wie man in ihrer Autobiografie erfährt. Doch möchte ich trotz der Verweise auf die Montagetechnik Ursula Krechels den Roman nicht im Vergleich mit seinen „Bausteinen“ lesen. Zugleich halte ich den Vorschlag von Hannelore Scholz-Lübbering, den Roman als weiblichen Reisebericht zu lesen, biografistisch motiviert, da Scholz-Lübbering vehement darauf pocht, dass Ursula Krechel nachweislich der westdeutschen Frauenbewegung nahe gestanden hat und diesen Feminismus im Roman verhandelt sieht.[51]

Dass der kulinarische Diskurs im Roman über die Thematisierung der Erwerbstätigkeit von Frau Tausig auch dazu anregt, den Text gender beleuchtend zu lesen, bekräftigt einmal mehr die These, dass das „soziale Totalphänomen“ Essen als Diskursgenerator fungiert.

 

4. Schlussbetrachtung

Krechel bietet keine versöhnliche Erzählung. Anders als manche ‚Shanghailander‘, die im Nachhinein ihrem Schicksal und Leiden einen Sinn zu geben versuchen, verzichtet die Autorin konsequent auf eine solche Sinnstiftung. Sie lenkt den Blick auf die Verluste und verweigert sich jeglicher nachträglicher Heroisierung.[52]

Das von Inge Stephan hiermit ausgesprochene Lob für die literarische Erinnerungsarbeit, die Krechel mit ihrer Montage vorlegt, verweist ferner darauf, wie „durch behutsame Fiktionalisierungen und Erfindungen eine neue Narration erzeugt werden kann, die ihre eigene Wahrheit besitzt“[53]. Die mit dieser Arbeit herausgestellte Mehrfachbesetzung der Nahrungsmittel arbeitet meines Erachtens nach dieser „eigene[n] Wahrheit“ sinnstiftend zu; zeigt der Roman als eine Art Erinnerungskaleidoskop doch auf, dass Essgewohnheiten „zu den stabilsten Eigenarten von Menschen und Kulturen gehören“[54]. Der Verlust der Heimat auch den Verlust von Essgewohnheiten mit sich bringt, durchkreuzt Formen von Kultur und Konversation, die durch ritualisierte Mahlzeiten tradiert wurden. Insofern stimme ich Stephan zu, dass der Blick der Erzählung auf die Verluste auf unterschiedlichsten Ebenen gerichtet wird – von denen nur eine die kulinarische ist. Obgleich sich im Mangel und der Andersartigkeit von Speisen in der Fremde Shanghais eine tiefe Trauer über den sich im Essen offenbarenden Kulturverlust manifestiert, kann dem Exil für die Figur der Frau Tausig doch gerade über die Nahrungsdinge erst eine Erträglichkeit zugesprochen werden. Was wäre Frau Tausig ohne den Apfelstrudel oder besser noch: was wäre sie ohne die Frühlingsrolle? Insbesondere über die Themata von Nationalgerichten und kulinarischen Neuheiten stellt der Roman den Konnex von Essen und Identität heraus. Das dritte Kapitel hat erläutert, dass gerade die Verbindung von Essen und Identität ob der interkulturellen Dimension der Exilerfahrung auch neu verhandelt wird. Eigen- und Fremdzuschreibungen werden über das Essen artikuliert, denn die Erzählung berichtet sonst kaum von Kontakten zwischen Exilanten und Einheimischen, was zugegebenermaßen auf die Ansiedlung der Exilanten am Rande Shanghais zurückzuführen ist. Dennoch wird von Szenen auf dem Lebensmittelmarkt berichtet, den Frau Tausig mit den Suppenköchen besucht, werden an diesem Ort die Eigenheiten der anderen Kultur zum Beispiel über das Anschlagen eines Hühnereis zur Erzielung eines geringeren Preises offenbart. Und auch Herrn Brieger beschäftigt die fremde Kultur und deren Essen so sehr, dass er eine Analyse der Shanghaier Ernährung vorlegt:

Brieger hatte eine freihändig zusammengeschusterte Theorie, die er beim Beobachten der Arbeiter gewonnen hatte: Sie brauchen so viele Ruhepausen, weil sie zu wenig eiweißhaltige Nahrung essen, sie essen Reis und Gemüse, das nährt sie, gibt aber keine Kraft. Darüber dozierte er vor Lazarus und Dr. Wolff bei einer Tasse amerikanischem Kaffee. (SWO 398)

Textpassagen wie diese zeigen, dass das soziale Totalphänomen Essen motivisch den Roman prägt. Ob des Umfangs dieser Arbeit konnten nicht alle Bedeutungsdimensionen dargelegt werden. Gerade auch die Montagetechnik legt eine Analyse der intertextuellen Verweise nahe, die Henrike Walter mit ihrem auf Märchen- und Mythenelemente fokussierten Beitrag vorgelegt hat. Walter bezieht sich gerade auch hinsichtlich dieser „Bausteine“[55] des Romans auf das Ehepaar Tausig. Analysen der Geschichte des Paares vor der Folie der grimmschen Geschichte Die Sterntaler sind deshalb hier nicht integriert worden.

Zum Schluss – und dies als Ausblick für weitere Auseinandersetzungen mit diesem Roman verstehend −, möchte ich den Blick für das Motiv des Apfels schärfen: der Apfel ist nicht nur Bestandteil des ‚lebensverändernen‘ Apfelstrudels, sondern wird als Heilsversprechen Herrn Lazarus als Kur verordnet und ferner als verbotene Frucht bzw. Frucht der Verführung inszeniert. Das gängige Bild vom Apfel als verbotener Frucht aus dem Paradies, das einmal mehr die anthropologische Auseinandersetzung mit Essen und mit Essen als Mittel zur Erkenntnis auch schon bei Adam und Eva offenbart, ist ans Ende der Erzählung gesetzt. Lazarus unterhält eine Brief- und Päckchenkorrespondenz nach Deutschland. Eingeflochten in dieses Hin und Her von Paketen, dem Dank einer Freundin dafür und der Ankündigung seitens Lazarus von noch größerer Pakete, ist eine Episode aus dem Leben von Lottes Tochter Edith. Warum diese einen Apfel ‚geschenkt‘ bekommt und wieso diese milde Gabe keiner in Frage stellt, erklärt der Roman wie folgt:

Die Flüchtlinge fanden das Kind ‚brav‘, das war es auch, und dabei blieb es. Edith war auch deshalb brav, weil der Pfarrer ihr zuerst eine schwere Hand auf den Kopf gelegt hatte, eine Hand, die auch Segenshand sein wollte […]. Später wurde die Hand nervös, fummelte an dem Kind, heiß und schwer, Edith sah die Behaarung und die Flußläufe der Adern auf dem Handrücken, Speichelfeuchtigkeit und aufgefangene Samenfeuchtigkeit, wenn die Hand tiefer und tiefer rutschte, einen Bendel löste, an einer Knopfleiste nestelte, und immer noch war es die Segenshand, die hastig wieder zuknöpfte und dem Kind einen Apfel mitgab. Wer hat dir den Apfel geschenkt?, fragte die Mutter. Der Pfarrer, sagte Edith, dagegen war nichts zu sagen. (SWO 404)

Obgleich Nahrungsmittel schon immer Gegenstand von Tauschgeschäften waren, schildert dieser Textauszug kein Tauschgeschäft, sondern eine Misshandlung. Die Einflechtung solcher Szenarien kann als Geschichtstreue Krechels gedeutet werden, als Repräsentation des Bemühens, die Bruchstücke – vor allem die psychologischen – dieser Zeit aufzusammeln, sie so zu setzen, dass deutlich wird, dass die Grausamkeit dieser Zeit ohnehin jede menschliche Dichtungs- und Vorstellungsfähigkeit übersteigt, mehr als Bruchstücke nicht dargestellt werden können. So ist der Apfelstrudel nur ein Stück von Bedeutung, wie es die Frühlingsrolle ist, die Tausig-Törtchen, Tee ohne Teeblätter, eine Apfelkur und wie es eben der verbotene Apfel ist. Doch gerade die Vielzahl und die Verbindung dieser Stücke miteinander entfalten die immense Bedeutung und begründen die Bezeichnung des Essens als soziales Totalphänomen, das auch in Krechels Roman seine vielgestaltige Präsenz entfaltet.

 

 

5. Literaturverzeichnis

Siglenverzeichnis

SWO = Krechel, Ursula: Shanghai fern von wo. München 2010.

Primärliteratur

Krechel, Ursula: Shanghai fern von wo. München 2010.

 

Sekundärliteratur

Beiträge zum Roman

Elsing, Sarah: „Gnädige Frau, sind Sie vielleicht meine Mama?“. In: FAZ (29.01.2009) [online abgerufen: 22.12.2013].

Graf, Daniel: „Ursula Krechel: Shanghai fern von wo“. In: Cicero (17.09.2009) [online abgerufen: 22.12.2013].

Krechel, Ursula: „Der lange Weg“. In: Exil 30 (2010), S. 34-37.

Liu, Wie: „Shanghai als Schlupfloch der anderen: über Ursula Krechels Roman ‚Shanghai fern von wo‘“. In: Literaturstraße 12 (2011), S. 345-356.

Rüdenauer, Ulrich: „Die Archivarin des Verdrängten“. In: ZEIT online (09.10.2012) [online abgerufen: 22.12.2013].

Scholz-Lübbering, Hannelore: „Das Unaussprechliche der Bilder: ‚Shanghai fern von wo‘ von Ursula Krechel“. In: Miroslawa Czarnecka, Grazyba Barbara Swecyk und Christa Ebert (Hg.): Der weibliche Blick auf den Orient. Reisebeschreibungen europäischer Frauen im Vergleich. Bern 2010, S. 211-223

Stephan, Inge: Bilder und NachBilder vom Exil in Shanghai in Literatur und Film. Vicki Baum – Ulrike Ottinger − Ursula Krechel“. In: Deutsch-chinesische Annäherungen (2011), S. 187-203.

Walter, Henrike: „Märchen, Mythen und Montage: Ursula Krechels Roman Shanghai fern von wo als Mosaik von Bedeutung“. In: Exil 30 (2010), S. 21-33.

 

Weitere Sekundärtexte

Ackermann, Andreas: „Das Eigene und das Fremde. Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers“. In: Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart 2004, S. 139-154.

Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 360.

Barlösius, Eva: Soziologie des Essen. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim und München 1999.

Baudy, Gerhard: „Metaphorik der Erfüllung. Nahrung als Hintergrundmodell in der griechischen Ethik bei Epikur“. In: Archiv für Begriffsgeschichte 25 (1981), S. 7-68.

Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000.

Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Köln 1994, S. 191.

Hà, Kiê Nghi: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld 2005.

Kimmich, Dorothee und Schamma Schahadat: „Vorwort“. In: Dies. (Hg.): Essen (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2012/1). Bielefeld 2012, S. 7-18.

Lehmann, Christine: „Türkische Currywurst mit Pommes. Die Esskultur türkischer Migranten zwischen nationalem Narrativ und Hybridisierungen“. In: Dorothee Kimmich und Schamma Schahadat (Hg.): Essen (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2012/1), S. 61-72.

Lévi-Strauss, Claude zit. in: Barlösius 1999.

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Pudel, Volker: „Psychologie des Essens“. In: Felix Escher und Claus Buddeberg (Hg.): Essen und Trinken zwischen Ernährung, Kult und Kultur. Zürich 2003, S. 121-138.

Simmel, Georg: „Soziologie der Mahlzeit“. In: Ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Stuttgart 1957, S. 243-250.

Trojanow, Ilija: „Exil als Heimat. Die literarischen Früchte der Entwurzelung“. In: Isolde Charim und Gertraud Auer Borea (Hg.): Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden. Bielefeld 2012, S. 155-163.

Wierlacher, Alois: Vom Essen in der deutschen Literatur. Mahlzeiten in Erzähltexten von Goethe bis Grass. Stuttgart 1987.

Ders.: „Einleitung“. In: Alois Wierlacher, Gerhard Neumann und Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder (= Kulturthema Essen, Bd. 1). Berlin 1993, S. 1-21.

Ders.: „Oralität und Kulturalität von Geschmack und Genuss“. In: Alois Wierlacher und Regina Bendix (Hg.): Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis (= Wissenschaftsforum Kulinaristik, Bd. 1). Berlin 2008, S. 157-171;

Ders.: „Kulinaristik − Vision und Programm“. In: Alois Wierlacher und Regina Bendix (Hg.): Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis (= Wissenschaftsforum Kulinaristik, Bd. 1). Berlin 2008, S. 2-15.



[1] Krechel, Ursula: Shanghai fern von wo. München 2010, S. 46. Im Folgenden wird der Roman durch die Sigle „SWO“ zitiert und die Seitenzahl im Fließtext benannt.

[2] Walter, Henrike: „Märchen, Mythen und Montage: Ursula Krechels Roman Shanghai fern von wo als Mosaik von Bedeutung“. In: Exil 30 (2010), S. 21-33; hier: S. 21.

[3] Für Nietzsche offenbaren sich Kulturen in ihren jeweiligen Essensordnungen. Das Essen gehört demnach zu den „allernächste[n] Dingen“ der menschlichen Existenz, denen wir mehr Aufmerksamkeit schenken sollten. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. In: Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. München 1960, Bd. 1, S. 875.

[4] Der Begriff Kulinaristik zur Bezeichnung einer Forschungsrichtung geht auf Alois Wierlacher zurück. Wierlacher hat den Begriff sowohl lat. culina (dt. Küche) als auch in Analogie zu Wörtern Logistik und Germanistik gebildet. Vgl. ebd.: „Kulinaristik − Vision und Programm“. In: Alois Wierlacher und Regina Bendix (Hg.): Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis (=Wissenschaftsforum Kulinaristik, Bd.1). Berlin 2008, S. 2-15; hier: S. 2.

[5] Mauss, Marcel: zit. nach: Hans Jürgen Teuteberg, Gerhard Neumann und Alois Wierlacher (Hg.): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven (= Kulturthema Essen, Bd. 2). Berlin 1997, S. 14.

[6] Von einer „Entscheidung für ein panoramatisches Arbeiten, dessen Konsequenzen noch nicht abzusehen waren“, spricht die Autorin in ihrer Lesung im Jewish Refugee Museum in Shanghai am 20. April 2010. Krechel, Ursula: „Der lange Weg“. In: Exil 30 (2010), S. 34-37; hier: S. 34.

[7] Die Forschung bezeichnet Shanghai immer wieder als das „Exil der kleinen Leute“ (vgl. auch: Walter 2010, S. 21), Krechel selbst distanziert sich in ihrer Lesung in Shanghai jedoch von diesem Begriff und spricht von einer „Emigration am Rande“ (Krechel 2010, S. 35).

[8] Kimmich, Dorothee und Schamma Schahadat: „Vorwort“. In: Dies. (Hg.): Essen (=Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2012/1). Bielefeld 2012, S. 7-18; hier: S. 8.

[9] Wierlacher, Alois: Vom Essen in der deutschen Literatur. Mahlzeiten in Erzähltexten von Goethe bis Grass. Stuttgart 1987.

[10] Die gemeinsame mythische Wurzel rekurriert aus den biblischen Mythos vom Baum der Erkenntnis. Eine ausführliche Analyse zum Konnex von Essen und Mythos legt Gerhard Baudy vor. Vgl. ebd.: „Metaphorik der Erfüllung. Nahrung als Hintergrundmodell in der griechischen Ethik bei Epikur“. In: Archiv für Begriffsgeschichte 25 (1981), S. 7-68.

[11] Wierlacher, Alois: „Einleitung“. In: Alois Wierlacher, Gerhard Neumann und Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder (= Kulturthema Essen, Bd. 1). Berin 1993, S. 1-21; hier: S. 7.

[12] Graf, Daniel: „Ursula Krechel: Shanghai fern von wo“. In: Cicero (17.09.2009) [online abgerufen: 22.12.2013].

[13] Elsing, Sarah: „Gnädige Frau, sind Sie vielleicht meine Mama?“. In: FAZ (29.01.2009) [online abgerufen: 22.12.2013].

[14] Walter 2010, S. 21.

[15] Rüdenauer, Ulrich: „Die Archivarin des Verdrängten“. In: ZEIT online (09.10.2012) [online abgerufen: 22.12.2013].

[16] Vgl. den Titel des Forschungsbeitrags von Henrike Walter (s. Anmerkung 2).

[17] Elsing 2009.

[18] Elsing 2009.

[19] Posner, Roland: „Kulinaristik als Kultursemiotik“. In: Aloirs Wierlacher und Regina Bendix (Hg.): Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis (= Wissenschaftsforum Kulinaristik, Bd. 1). Berlin 2008, S. 19-34; hier: S. 25.

[20] Vgl. Neumann, Gerhard: „,Jede Nahrung ist ein Symbol‘. Umrisse einer Kulturwissenschaft des Essens“. In: Alois Wierlacher, Gerhard Neumann und Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder (= Kulturthema Essen, Bd. 1). Berlin 1993, S. 385-444; hier: S. 439.

[21] Vgl. Wierlacher 2008, S. 3.

[22] Liu, Wie: „Shanghai als Schlupfloch der anderen: über Ursula Krechels Roman „Shanghai fern von wo“. In: Literaturstraße 12 (2011), S. 345-356; hier: S. 350.

[23] Pudel, Volker: „Psychologie des Essens“. In: Felix Escher und Claus Buddeberg (Hg.): Essen und Trinken zwischen Ernährung, Kult und Kultur. Zürich 2003, S. 121-138; hier: S. 121.

[24] Vgl. Stephan, Inge: Bilder und NachBilder vom Exil in Shanghai in Literatur und Film. Vicki Baum – Ulrike Ottinger − Ursula Krechel“. In: Deutsch-chinesische Annäherungen (2011), S. 187-203. Stephan rekurriert auf James E. Youngs 1997 publizierte Studie „Beschreiben des Holocaust“ und fragt im Anschluss hieran nach dem „Verhältnis von Geschichten und Geschichte“ in Krechels Roman (ebd.: S. 190). Auf diese Frage könnte durch Heranziehung der Autobiografie von Franziska Tausig, Shanghai Passage, eine Antwort gegeben werden, denn ein Vergleich der Biografie mit Krechels Roman stellt deutlich heraus, welche Passagen Krechel übernommen hat – wie viel Geschichte in ihrer Geschichte enthalten ist. Gleichwohl ist auch Frau Tausigs Autobiografie nur als ein Abbild von Geschichte zu verstehen – ein Abbild, das sie erst in hohem Alter aufgezeichnet hat. Weil die Frage nach dem Verhältnis von Geschichten und Geschichte demnach ad absurdum führt, wird sich gegen einen Vergleich dieser beiden Bücher im Rahmen dieser Arbeit ausgesprochen.

[25] Graf 2009.

[26] Stephan 2011, S. 190.

[27] Die mit Assmann gesprochene „Gedächtnis-Kunst“ kommt nach dem Vergessen – steht somit in Abgrenzung zur alten Tradition der ars memoria, wo die Kunst dazu dient, dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Die „Gedächtnis-Kunst ist keine Technik oder Präventivmaßnahme, sondern bestenfalls eine Schadenstherapie, ein behutsames Einsammeln zerstreuter Reste, eine Bestandsaufnahme des Verlustes“; Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 360.

[28] Die Bezeichnung „kulinarische Früchte des Exils“ ist angeregt bzw. nimmt Bezug auf einen Artikel Ilija Trojanows; vgl. ebd.: „Exil als Heimat. Die literarischen Früchte der Entwurzelung“. In: Isolde Charim und Gertraud Auer Borea (Hg.): Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden. Bielefeld 2012, S. 155-163.

[29] Wielacher 2008, S. 4.

[30] Matt, Peter von: „,Nichts ist unbändiger doch denn die Wut des leidigen Magens‘. Not und Glück des Essens in der Literatur. Von Homer bis Brecht“. In: Felix Escher und Claus Buddeberg (Hg.): Essen und Trinken zwischen Ernährung, Kult und Kultur. Zürich 2003, S. 179-196; hier: S. 181.

[31] Ebd.: S. 180.

[32] Walter 2010, S. 21.

[33] Vgl. Barlösius, Eva: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim und München 1999, S. 93. Ausnahmen bilden Dinge, die der Mensch nicht verdauen kann: z.B. Zellulose, giftige Stoffe und mikrobiell verdorbene Pflanzen und Tiere. Ansonsten existieren für den Alles-Esser Mensch nur wenige natürliche Beschränkungen.

[34] Ebd.: S. 94.

[35] Barlösius 1999, S. 123.

[36] Vgl. ebd.

[37] Vgl. Lévi-Strauss, Claude zit. in: Barlösius 1999, S. 123.

[38] Lehmann, Christine: „Türkische Currywurst mit Pommes. Die Esskultur türkischer Migranten zwischen nationalem Narrativ und Hybridisierungen“. In: Dorothee Kimmich und Schamma Schahadat (Hg.): Essen (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2012/1), S. 61-72; hier: S. 61.

[39] Wierlacher, Alois: „Oralität und Kulturalität von Geschmack und Genuss“. In: Alois Wierlacher und Regina Bendix (Hg.): Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis (= Wissenschaftsforum Kulinaristik, Bd. 1). Berlin 2008, S. 157-171; hier: S. 165.

[40] Simmel, Georg: „Soziologie der Mahlzeit“. In: Ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Stuttgart 1957, S. 243-250, hier: S. 243.

[41] Simmel 1957, S. 245.

[42] Stephan 2011, S. 200

[43] Liu 2011, S. 350.

[44] Barlösius 1999, S. 90.

[45] Hà, Kiê Nghi: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld 2005.

[46] Ackermann, Andreas: „Das Eigene und das Fremde. Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers“. In: Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart 2004, S. 139-154; hier: S. 140.

[47] Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000.

[48] Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Köln 1994, S. 191.

[49] Trojanow (2012), S. 156.

[50] Vom Schlupfloch Shanghai ist bereits vielfach in der Forschung gesprochen worden. Auch der Beitrag von Wie Liu zu Krechels Roman benutzt dieses Wort zur Beschreibung des Exils Shanghai und verweist auf seine geläufige Verwendung (ebd.: S. 345).

[51] Vgl. Scholz-Lübbering, Hannelore: „Das Unaussprechliche der Bilder: ‚Shanghai fern von wo‘ von Ursula Krechel“. In: Miroslawa Czarnecka, Grazyba Barbara Swecyk und Christa Ebert (Hg.): Der weibliche Blick auf den Orient. Reisebeschreibungen europäischer Frauen im Vergleich. Bern 2010, S. 211-223.

[52] Stephan 2011, S. 203.

[53] Stephan 2011, S. 203.

[54] Wierlacher 1987, S. 16.

[55] Walter 2010, S. 23.