liebt // 23.09.2012

liebeswarm

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Die Zigarettenbehälterhand streift seine Wange. Ein Bärtiger. Flauschig bis behaarjahend, nicht kratzig − und schon gar nicht jünglinghaft anmutend −, so hat er es gern. Ein letzter Schnipser zwischen und durch die von der Leber besprenkelten Finger. Der letzte Zug. Ein nächster − voller klarer winterlicher Kältesdämpfe − lässt ihn sich den Schal noch enger um den Halse schlängeln, lässt die Fäuste sich zu Schneebällen in Lederjacke drängen.

Das ist sie also: Osnabrücker Winterluft! Heimat- und Weihnachtsduft zugleich. Jahresabschluss: 2012 – „wasne Zahl“, spricht der dritte Glühwein von seinem linken in sein rechtes Ohr. „Noch nicht vorbei“, antwortet ungefragt das nimmer enden wollende Fiepen des Schlauphoneapparats, welches für das Ende des Jahres (eines angeblichen Weltuntergangs nach Maya-Kalendarium) den sich daran anschließenden Beginn 2013 als Trip „To Rome with Love“ terminiert hat. Doch, noch einzwo Wochen für das Arbeitstier to go. Situation hier realisieren, Moment festhalten, Ausrufezeichen!!!

Der Zigarettensmog längst im Schnee des nächsten Abflussrohres verdunstet, der Nase nach zu Mandeln sich ziehend flanieren. Los. Süßspeisenmagen will gefüllt werden, soll er doch Kindheitsjahre in Mutterhausen neu be- und gelebt wissen. „3 Euro und fünfziiieg“, so lautet heute also Preislichkeit. Die Tüterie der im Zuckerbad gewendeten Cashews öffnend, den Kopf suizidal in dieses Papierdreieck übereifrigst animalisch stürzend… Halt, Stopp: „Wo ist sie? Wo ist sie, wo ist sie!“ Links schauen, dann rechts, nochmal links. Es bleibt die Erkenntnis: Kein Zebrastreifen weit und breit. Doch gesichtet soll ohnehin kein Zebra sein. Maikäfer, die gilt es im Dezember zu suchen. Schwachsinn? Bullshit! Im Mai lernten sie sich kennen. Man schrieb den ersten Mai, den Kampftag der Arbeitsbewegeritis, an welchem sie ihm in die Augen blickend sich käfergleich verkrochen hat – in hinterste Nischen, in virtuelle Welten voller Eventualitäten. In Nischen, deren sinnliche Verortung minus 10 (fünf Häuser von Hammer Steindamm 114 zu 104) verhieß und deren Decodierung zugleich bis ins Hier und Jetzt reicht.

Also nochmals: „Wo ist sie?“ Er mag das nicht. Er mag es wirklich nicht. Will nicht spüren, wie dieses Gefühl des Unwissens und des gleichsamen Wissens um ihre Unbändigkeit sich breit macht. „Lauf nicht weg!“. Er füllt seine Sinne. Besinnt sich auf das letzte halbe Jahr, auf die kommenden Jahre. Sinne schärfen. Kinderlachen. Rot verschniefte Rentierrudel sich im Schnee besudelnd, Lichterketten Strahlen spendend. Weihnachtsbärte saufnasigst „O Tannenbaum“ grölen hörend und Damen sich vor Rum genierend wild artikulierend Brust entblößend störend… Da ist noch was! Da war was. Wo?

Blick nach vorn. Es dreht sich. Dreht sich nicht in ihm, sondern vor ihm. Dreht sich im Klang der Musik. Und in dieser Musik, da liegt sie – da liegt die Tonspur verlockender Locken von ihr (irgendwo vor ihm). Da lacht sie lauthals auf. Lacht als gäbe es keine Verantwortung mehr, keinen Schwermut in ihr. Auch kein Wunsch nach mehr. Nur Meer. Die Musik gleicht dem Meeresrauschen, welches er schon lisboatisch im Atlantik situieren konnte. Luft- und Lustrauschen im Lagunenhaus. Kalt und warm. Kalt. Aber warm in und mit ihr…

Zu seinen Füßen nun liegt ihm ihr braun-grau-schwarzer Wärmemantel sowie beigefarbenes Behalsungsband. Da sitzt sie triumphierend auf einem Schildkrötentier. Halt findend, Sinn stiftend im festen Sitz des Panzerlings. Ein Karussell. Ein Karussell. Ein Kinderspiel. Sich im Kreise drehen und dazu stehen, weil es Bewegung ist. Und Bewegung warm macht. Da sitzt sie, sitzt heiter bis überschwenglich. Sitzt gelassen naturbelassen hüllenlos auf trauter Heimat und lacht auf. Und rauf. Und ruft. Und zitiert Rilkes „Karussell“. Zitiert es schreiend laut nach Paris telegraphierend, wo ihr der Jardin du Luxembourg zujubeliert. Ob 1906, ob 2012, auf 2013! Hier, jetzt, mit Dir!

Mit einem Dach und seinem Schatten dreht/ sich eine kleine Weile der Bestand/ von bunten Pferden, alle aus dem Land,/ das lange zögert, eh es untergeht./ Zwar manche sind an Wagen angespannt,/ doch alle haben Mut in ihren Mienen;/ ein böser roter Löwe geht mit ihnen/ und dann und wann ein weißer Elefant.// Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,/ nur daß er einen Sattel trägt und drüber/ ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.// Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge/ und hält sich mit der kleinen heißen Hand,/ dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.// Und dann und wann ein weißer Elefant.// Und auf den Pferden kommen sie vorüber,/ auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge/ fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge/ schauen sie auf, irgendwohin, herüber -// Und dann und wann ein weißer Elefant.// Und das geht hin und eilt sich, daß es endet,/ und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel./ Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,/ ein kleines kaum begonnenes Profil -.// Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,/ ein seliges, das blendet und verschwendet/ an dieses atemlose Spiel …

Das ist sie wieder. Sie. Sie und Kindlichkeit, die ihr immanente Kinderperspektive. Da ist es warm. Hier ist es warm. Hier und da. Das ist Osnabrück vielleicht im Winter. Und es ist warm. Liebeswarm.