reist // 08.10.2013

Meerlancholie

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„So bin ich seit jeher damit beschäftigt, diese Melancholie zu bekämpfen oder mich dann doch, wie alle Istanbuler, ihr endlich hinzugeben“ (S. 15), reflektiert der wohl bekannteste türkische Autor der Gegenwart Orhan Pamuk das Verhältnis zu seiner Heimatstadt. In den Erinnerungen an die Stadt zwischen den zwei Kontinenten sind sprachlich formvollendet sagenumwobene Geschichten mit der persönlichen Erfahrungswelt des Autors verwoben. Zugleich findet die Federführung Pamuks durch die intermediale Einbindung zahlreicher Fotos aus der musealen Privatschatzkammer sowie Zeichnungen und Fotografien von wohlbekannten Namen eine künstlerische Unterstreichung. Die Melancholie, „die von den Überresten aus großer Zeit ausgeht“ (S. 15), hat den prämierten Schriftsteller seine Kindheit wie ein Schwarzweißfoto erleben lassen − „als zweifarbigen, halbdunklen Ort“ (S. 64).

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Die Schwarzweißatmosphäre, die mit dem melancholischen Charakter der Stadt unauflöslich verbunden ist und von den Istanbulern, weil sie darin ihr Schicksal sehen, immer wieder von neuem kreiert wird, läßt sich am besten verstehen, wenn man an einem Wintertag aus einer wohlhabenden europäischen Stadt mit dem Flugzeug in Istanbul eintrifft und sich sofort in das Menschengewühl im Zentrum der Stadt an der Galata-Brücke stürzt und dort mit ansieht, in was für farblosen, ausgebleichten, mausgrauen Kleidern die Leute herumlaufen. Beim Anblick der Istanbuler, die im Gegensatz zu ihren reichen, stolzen Vorvätern kaum einmal ein kräftiges Rot, Orange oder Grün tragen, mag es dem Fremden erscheinen, als verdanke sich diese Unscheinbarkeit irgendeiner besonderen Moralauffassung. Dem ist natürlich nicht so, es herrscht nur eine tiefe Melancholie vor, die einem eine Moral der Bescheidenheit geradezu nahelegt. Das seit hundertfünfzig Jahren auf der Stadt lastende Gefühl des fortwährenden Scheiterns manifestiert sich in zahllosen Schwarzweißperspektiven und eben auch in der Kleidung. (S. 79f.)

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Obgleich manch einer anmerken mag, dass wir Herbst haben, sind meine ersten Tage hier von verregneter Natur. Wind und Wolken bedingen eine sich ständig verändernde Silhouette der Stadt. Gleich einer Fata Morgana laufen alle Versuche die Stadt zu fassen ins Leere – genauer gesagt: ins Graue. Der Blick aus zwei der drei Fenster meines Eckhaus-Zimmers (mit Blumenkasten) richtet sich unweigerlich auf den stetigen Kampf der Winde um die Vorherrschaft auf die Stadt am Bosporus.

Der Nordostwind reizt unaufhörlich die noch immer von der Flugluft gereizte Nase, während südwestlich der Lados mir die 1001 zu erklimmenden Treppenstufen von der Bahnstation zu meiner Wohnung unter den Füßen wegzufegen droht. Ja, es ist kalt hier. Es regnet. Es windet. Der Regenschirm hat sich bereits zu einem Auffangbecken verkehrt, sammelt Wasserreserven für die nächste Dürreperiode.

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Wo bin ich?

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Und so erscheint mir die literarische Erinnerungsarbeit des Autors in einen Dialog mit meinen Emotionen treten zu wollen. Der Kontakt mit Pamuks Sprache wird zum Kulturkontakt: ich lebe und lese „Istanbul“ in Istanbul. Fernab von jeglichem wissenschaftlichen Impetus wird hier ein ‚close living‘ – anstelle eines „close readings“ − vollzogen. Wo sich ob der fehlenden Sprachkenntnisse in den ersten Tagen hier vor Ort zahlreiche Fremdwahrnehmungen generiert haben, fühlen sich meine Sinne in diesen Seiten beheimatet. Mit den schwarzen Buchstaben auf weißem Papier, hier und da ergänzt durch weitere künstlerische Produktionen in dieser s/w-Manier, lässt es sich besser treiben.

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Gleich einer Möwe auf und über den zahlreichen Gewässern, lasse ich mich von der Tristesse in brandenden Wellen überrollen. „[U]nd so blättere ich mich von einem schwarzweißen Bild zum nächsten und stelle mir Istanbul ohne Mitte und ohne Ende vor wie ein Kindermärchen“ (S. 116f.): jede Sekunde ein Anfang von etwas. Und ich hier. Regisseur, Hauptdarsteller oder Statist. „Alles kommt, wie es kommt“, würde mein Herzmensch wohl sagen.

Wenn wir am Abend im Schein der Lampe dort alle beisammensaßen, wurde die Wohnung meiner Großmutter in meiner Phantasie zur Kapitänskajüte eines riesigen Schiffes. Wir waren auf dem im Sturm dahinjagenden Gefährt sowohl der Kapitän als auch die Besatzung und die Passagiere und entsetzten uns über die sich zu Bergen türmenden Wellen. Diese Vorstellung rührte von den Nächten her, in denen ich im Bett lag und die klagenden Hörner der großen, durch den Bosporus gleitenden Schiffe vernahm, und am meisten gefiel mir daran der stolze Gedanke, unser aller Schicksal und das des ganzen Schiffes hänge einzig und allein von mir ab. (S. 34f.)

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Obgleich ich nicht von einem rosarot eingefärbten Himmel empfangen wurde, nirgends und nimmer die Kuppeln der Blauen Moschee gold über den Dächern der Stadt glänzten und mich die ein oder andere Katze kratzbürstig anschnauzt, ist doch jeder Augenblick als eine Gelegenheit zu erleben, die eingerahmt werden möchte. Nach emotionaler Verortung sucht.

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Die wenigen Fotos, die sicher kein profitables Titelblatt eines Hochglanzmagazins zieren werden, lassen sich doch im Anschluss an das von Pamuk seinem Text vorangestellte Zitat des Stadtschreibers Ahmet Rasim als die Wirklichkeit abbildend verstehen. Das ist Istanbul. Das ist meine Zeit hier. Die ersten Tage davon.

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„Die Schönheit der Landschaft liegt in ihrer Melancholie.“ (Ahmet Rasim)

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Die in Hamburg aufgeworfenen Erwartungen an diese Zeit in meinem Leben werden belanglos, jeglicher Druck, mit meinem Schreiben und den hier abgebildeten Bildern einem westlichen Drang und Sinn für Ästhetik nachkommen zu wollen, geht spätestens jeden Tag mit der Sonne unter.

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Und hier lässt sich vermutlich schon der erste Durch-Bruch meinerseits erkennen: obgleich mir meine Sprachbarriere eine Fremdheit suggerieren will, bin ich den Istanbulern nicht fremd, wenn ich melancholisch deren Gemütszustand hier schriftlich adpatier‘. Oblgeich das bislang nur abends passiert, ist dies ein Anfang. Von was? Das weiß ich noch nicht. Vielleicht wird es eine Geschichte über Kastanien.

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