fühlt // 09.10.2013

Von der Unmöglichkeit der Rückkehr

„Nächste Woche werden sie hier nicht als der- oder diejenige hier sitzen, die sie heute sind“, so ein geläufiges Postulat der Literaturwissenschaftlerin Ortrud Gutjahr. In jedem meiner bei ihr belegten Seminare wurde ein solcher Grundsatz ausgerufen, um zu verdeutlichen, dass das damit einhergehende Prinzip der Wandlung ein jedes Individuum prägt. Der vermeintlich ritualisierte alltägliche Griff zur Tasse Kaffee um 7:30 Uhr wird jeden Morgen von einer anderen Hand ausgeführt, von dieser über den Mund einem Organismus zugeführt, der zwar tagtäglich dieselbe mechanisch anmutende Arbeit vollführt, die Richtung dieser Arbeit läuft jedoch unabwendbar dem Ende zu. Tick, tack. Tick, tack. Nicht erst seit dem beeindruckenden Gemälde von Salvador Dalí wissen wir, wie es um unsere Zeit hier auf Erden bestellt ist. Sie rinnt uns durch die Hände. Doch um das Ende soll es hier nicht gehen. Noch nicht. (Tick, tack. Tick, tack.)

Bereits das altgriechische Versepos „Odyssee“ ist mit seiner Thematisierung der Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus nicht nur zum Mythos geworden, sondern enttarnt die Heimkehr selbst als Mythos. Wer denkt, er ziehe aus, und könne an denselben Ort zurückkehren, fällt einer Illusion anheim. Odysseus selbst kehrt getarnt als Bettler heim, findet sein Haus voller Fremder vor, die seine Frau Penelope umwerben. Doch nicht nur Haus und Heim finden Zurückkehrende verändert vor; sie selbst finden sich verändert an einem veränderten Ort, der doch als konstante Sehnsuchtsfläche während der Dauer des Fortseins fungierte. So geriet und gerät ein nach Beständigkeit suchendes Leben aus den Fugen – sowohl beim Aufbruch als auch bei der Heimkehr, was zahlreiche Rückblicke in die (Literatur-)Geschichte belegen. Man denke an Kriegsheimkehrer, Exilanten oder eben aber auch an die türkischen Gastarbeiter, die, von dem Anwerbeabkommen Deutschlands mit der Türkei (31. Oktober 1961) bedingt, nach Deutschland reisten, aber auch wieder zu ihren Familien in die Türkei – und sei es nur zum Urlaub – zurückreisten.

Von einem solchen Aufbruch und den Schwierigkeiten um die Möglichkeiten der Heimkehr erzählt der türkische Film „Dönüş“ (dt. Rückkehr). Bereits 1972 legte die Türkei hiermit eine Spielfilm-Produktion vor, deren dramaturgische Spannung sich an dem Konflikt des Vertrauten mit dem Fremden entzündet. Zugleich ist hiermit ein Grundmuster filmischer Erzählkonstruktionen (nach Hickethier benannt[1]), das auch die Entstehung des deutsch-türkischen Films als Genre einige Jahrzehnte später begründet hat.

„Dönüş“ mit der als „Sultanin des türkischen Films“ bezeichneten Schauspielerin Türkân Şoray in der Hauptrolle zeigt jedoch keine Bilder von Deutschland. Es geht hier nicht um das Fremderleben der deutschen Kultur seitens eines Gastarbeiters, sondern vielmehr um das Fremdheitsgefühl, das eine Familie anlässlich der Wiederkehr eines in Deutschland arbeitenden Familienmitglieds gegenüber diesem entwickelt. Obgleich der Aufbruch Ibrahims (Kadir İnanır) nach Deutschland aus Liebe zu seiner Frau Gülcan (Türkân Şoray) und ihrem gemeinsamen Kind vollzogen wird, verliebt sich Ibrahim in Deutschland nicht nur in den dort anzutreffenden Wohlstand, sondern ebenso in eine andere Frau. Nach einer ersten Rückkehr aus Deutschland in sein anatolisches Heimatdorf, präsentiert er nicht nur allen Döflern den technischen Fortschritt des Westens in Form von maßgeschneiderten Anzügen und einem Radio, sondern präsentiert zugleich den Drang zum erneuten Aufbruch nach Deutschland. Mit den dörflichen Strukturen kann und will er nichts mehr zu tun haben. Dieses romantische Drama offenbart mit den Ein-Blicken in und von Gülcans tiefen Augen nicht nur, dass die türkische Gesellschaft ihr sie auszeichnendes ‚hüzün-Gefühl‘ (dt. Melancholie, Traurigkeit) gerne auch vor dem Bildschirm inszeniert sieht, sondern diese Augen bezeugen den Weltschmerz, der bei jedem Daheimgebliebenen angesichts des Aufbruchs eines Geliebten wachgerufen wird.

Obgleich ich die Aufbrechende bin, bin ich doch empathisch und vom Film ergriffen genug, um bei dem in dieser Produktion gleich zweifach eingespielten bekannten türkischen Song „Hasretinden yandı gönlüm“ die Taschentücher zücken zu wollen. Die Auseinandersetzung mit diesem Film, der Gegenstand meiner Arbeit hier in Istanbul ist – wir arbeiten sowohl an seiner Transkription als auch an seiner deutschen Untertitelung −, macht mich zur Aufbrechenden und Zurückgebliebenden zugleich, wenn es heißt:

 

Hasretinden yandı gönlüm/ Yandı yandı söndü gönlüm/ Evvel yükseklerden uçtu/ Düze indi şimdi gönlüm

 

Mein Herz ist aus Sehnsucht nach dir verbrannt,/ Es brannte immer heftiger und ist dann erloschen,/ Zuerst schwebte es in der Höhe, jetzt liegt es am Boden.

 

Aramızda karlı dağlar/ Gözlerimde kanlı yaşlar/ Hasretin bağrımda kışlar/ Başa geldi olmaz işler/ Yokluğundan öldü gönlüm

 

Zwischen uns unüberwindbare Berge,/ Blutige Tränen in meinen Augen,/ Die Sehnsucht nach dir haust in meiner Seele,/ Weil du nicht da warst, ist meine Seele gestorben.

 

Gelecektin gelmez oldun/ Halimi hiç sormaz oldun/ Yaralarımı sarmaz oldun/ Yokluğundan öldü gönlüm

 

Du wolltest kommen und bist doch nicht gekommen,/ Du hast nicht nach mir gefragt,/ Du hast meine Wunden nicht verbunden,

 

Yokluğundan öldü gönlüm

 

Weil du nicht da warst, ist meine Seele gestorben.

 

Eine eindrucksvolle Version des Songs stellt meiner Meinung nach die meiner türkischen Namensvetterin dar: Zara. (Link hier: http://www.youtube.com/watch?v=gkXHSm1UCCg). Wann immer ich hier meinen Namen sage, werde ich nämlich als Zara, Zarah, Zana oder auch Zanah angerufen oder aufgeschrieben.

So sitze ich also hier in dem Bewusstsein, dass ich jetzt nicht mehr die Sarah von letzter Woche bin, sondern bereits zwischen den Zara-Sarah-Zarah-Sarah-Zana-Sarah-Zanah-Erfahrungen zwischen Orient und Okzident oszilliere.

Nicht in Bewegung gerät jedoch der Zeitpunkt meiner Rückkehr. Hoffentlich mit der Übersetzung von „Dönüş“ im Gepäck. (Hier der Link zum bislang nur in türkischer Sprache vorhandenen Film: http://www.youtube.com/watch?v=uva9sf2UOKQ)

Im Bewusstsein meiner Rückkehr, aber auch immer wieder anstehenden Aufbrüchen, muss ich mich an ein Foto erinnern, dass ich noch in meiner alten „Single-Wohnung“ geschossen habe – zu einer Zeit, in der ich unbedingt aufbrechen wollte. In die Liebe. Und das Liebesleben. Mit Dir. Wenn ich im Dezember dann wieder erste Tage in meiner „Beziehungswohnung“ verbringe, dann ist das eine Rückkehr und gleichermaßen ein Aufbruch.

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Tick

tack

Tick

tack

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[1] Hickethier, Knut (1995):  „Zwischen Abwehr und Umarmung. Die Konstruktion des anderen in Filmen“, in: Ernst Karpf(Hrsg.): Getürkte Bilder: Zur Inszenierung von Fremden im Film, Marburg: Schüren, S.21-40, hier: 21f.