fühlt // 02.07.2013

Mit Schwanz und Verstand

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Die Sprache der Liebe besteht aus dem Spreizen der Schenkel, dem Knistern der Laken, dem plötzlichen Zusammenzucken und – natürlich – aus Ja, Ja, Ja.“ (S. 427) Mit diesen offenen Worten zu ihrer offenen Beinstellung und ihrer offensichtlich aufklaffenden Herzverletzung resümiert die 21-jährige Protagonisten ihre Beziehung zu dem titelgebenden Mann eines Romans aus dem Genre Erotik. „Monsieur“ ist das Erstlingswerk einer jungen Autorin, die das aktuelle ZEITmagazin als „Wunderkind“ bezeichnet. Obgleich mich sogenannte Wunderkinder gleichermaßen anziehen wie auch abstoßen, schildert Anna Prizkau ihre Begegnung mit der jungen Schriftstellerin so gefühlsgeladen anziehend, dass ich nicht umhin konnte, meine – durch Shades of Grey generierte – Absage an die Erotikliteratur für einen Leseversuch abzusetzen. „Sex ist ihr Leben. Sex ist ihre Literatur“, so das ZEITmagazin, und noch am selben Tag war mir ein Stück neuerworbene Literatur Sex. Neben einem Literaturstudium teile ich mit der Protagonistin, die nicht nur dem Namen nach ihrer Schriftführerin (bis auf die Haare) gleicht, auch ungefähr dasselbe Alter. Zugegeben: auch die Erfahrung mit Kalibern 40+ ist ein gemeinsam geteilter Nenner.

Ich schmiege meinen Schwanz an deine Wange

Die Eichel streift dein Ohr

Leck meine Hoden

Deine Zunge ist samtweich wie Wasser

Aber auch grob wie ein Bluthund

Rot wie eine Hammelkeule

Ihre Spitze erinnert an den Ruf des Kuckucks

Mein Schwanz trieft vor Saft

Deine Pobacken sind göttlich

Sie öffnen sich wie dein Mund

Ich vergöttere sie wie den Himmel

Ich huldige ihnen wie dem Feuer

Ich labe mich an deinem Spalt

Ich spreize deine nackten Beine

Öffne sie wie ein Buch

In dem ich das lese, was mich um den Verstand

bringt. (S. 43f.)

Der nur in Siezform benannte Monsieur, ein 45-jähriger Arzt mit fünf Kinderkegeln und Königsfrau, zieht sich mit Gedichten dieser Art und Zitation der Literaten Louis Aragon, Georges Bataille und Louis Calaferte Ellie zur Kurtisane heran, die sich zunächst gewiss scheint, die Affäre zum Kollegen ihres Onkels unter Kontrolle zu haben – sich unter Kontrolle zu haben. Doch nicht nur beim Sex mit Monsieur gerät sie außer Kontrolle, auch die Gefühle geraten bei der nymphomanischen jungen Dame mehr und mehr außer Kontrolle. Der Roman, der als auf ein Wunsch von Monsieur von Ellie geschriebener Roman angelegt ist, vermag es in retroperspektivischen Schilderungen jedoch treffsicher und dabei literarisch anspruchsvoll diese Pseudo-Amour-fou zu analysieren.

Mit fünf gilt die morgendliche Erregung der Schokolade im Türchen des Adventskalenders, die brav darauf wartet, entnommen zu werden. Fünfzehn Jahre später sind es die SMS von Monsieur, die einen Infarkt auslösen. (S. 56)

Auch wenn Ellie „zwischen Alkoholrausch und Träumereien ohne Schwanz und Verstand“ (S. 66f.) auftritt, leidet und lernt der Leser mit ihr mit. Wenn es heißt: „Ganz Paris schien den Atem anzuhalten“(S. 72), möchte man dieser kleinen, blonden und vollbehinterten Madame eine heiße Tasse Kakao bringen und ihr „Guten Abend, gute Nacht“ vorsummen. Man möchte – und dazu lädt der Roman ein – jedoch auch Mäuschen spielen beim Sex unter angeblichen Raubtieren. Als Raubtier erscheint hier jedoch vornehmlich Monsieur. Die Liste der Männer, mit denen Ellie verkehrt, ist zwar lang, doch eine große Ausdauer beim Preisgeben der Intimitäten zwischen Mann und Frau hat Ellie-Emma nicht. Doch genau damit schlägt das Buch dort ein, wo es gebraucht wird: hier werden keine Liebhaber von Vampirgeschichten angesprochen, denen eine grobe Zeichnung der Charaktere reicht, hier wird der Anschluss dieser Affäre an allgemein bekannte Klischees bewusst mit-reflektiert.

Der Austausch kann sich über zwei oder drei Nachrichten erstrecken, die zwar in tödlicher Langsamkeit gesendet werden, geht aber nie darüber hinaus, denn irgendwann prallt eine meiner begeisterten Nachrichten gegen eine Wand – und das ist genau die Nachricht, die zu viel ist. (S. 360)

Diese literarisch gekonnt auf den Punkt gebrachten Erkenntnisse sind es, die dafür gesorgt haben, dass sich der Roman in Frankreich über 10 000-mal verkauft hat und bereits in 13 Sprachen übersetzt wurde. Verglichen mit dem Erfolg von Shades of Grey mag das vielleicht lachhaft klingen, aber über wen oder was man lachen möchte, bleibt zum Glück dem Rezipienten noch selbst überlassen. Ich für meinen Teil finde den Versuch, eine Literaturstudentin den Mann ihrer Träume mit nur drei Adjektiven beschreiben zu lassen, weitaus lachhafter als das kleine Schmunzeln, was meine Lippen angesichts der Tatsache umfasst, dass ein Unterschied zwischen Autor und Figur bei Frau Becker – ja, welche denn nun? – kaum auszumachen ist.

Ich finde, dieser Mann vermittelt eine Aura brillianter Intelligenz und Kultur. Die Intelligenz und die großen Nasen: Das sind für mich Brüste der Liebe. (S. 238)

Sätze wie diese zeugen von dem Können der jungen Autorin, die trotz oder gerade wegen ihrer sich selbst umkreisenden Federführung zu loben ist. Hinter dem intimen, roten Vorhang der gesellschaftlichen Attitüde sind wir doch alle selbstverliebte Protagonisten eines Stückes Namens „Ich“! Wer dieses Ich auch vor dem privaten Vorhang ausstellen mag, vor dem gehört – mit neidvollem „Oh“ – der Hut gezogen!