fühlt // 13.09.2016

Der Luftkuss

 

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Der schrille Ruf von Pieper dem Rotkehlchen erinnerte No auch diesen Morgen daran, dass die Sommerferien längst ein Ende gefunden hatten. Im Zeitlupentempo reckte und streckte er all seine müden fuchsfarbenden Glieder. Aus dem marineblauen Bett, das No letztes Jahr mit seinem Papa aus der größten Walnuss des Herbstes gezimmert hatte, lugten jetzt sein Kopf und sein Schwanz hervor. No kullerte sich noch einmal in seinem Nussschalenbett nach rechts, dann mit etwas Kraftaufwand nach links und wurde so schließlich schwungvoll in den für Eichhörnchen typischen Sitzstand befördert. Auf den Hinterbeinen sitzend rieb er sich den Schlaf aus den Augen während seine Ohren bereits die vertraute Stimme seiner Mutter aus der Küche vernahmen. „Noah, Dein Haselnussbrei wird kalt!“ No packte eilig Heft und Stift in seinen roten Rucksack. Er wusste, dass es schon sehr spät sein musste, denn „Noah“ nannte ihn Mama immer nur dann, wenn er drohte zu spät zur Schule zu kommen. In der Küche nahm er schnell seinen Platz ein und machte sich an seinen Hasselnussbrei. Mama konnte es nicht lassen, währenddessen Nos zerwuschelten Eichhörnschenschwanz zu bürsten. „Du bist schon wieder ein gutes Stück gewachsen, No“, sagte sie, als sie das Messband an seinen nun glänzend gekämmten Schwanz anlegte. „Schon 5,6 Zentimeter! Perfekt für einen weiten Sprung von Baum zu Baum!“ No rümpfte seine kleine Nase. Er wusste, dass seine Mama ihn nur ermutigen wollte, endlich alleine zur Schule zu hüpfen. Schon seit Wochen lag sie ihm damit in den Ohren. Sie wolle endlich wieder anfangen zu arbeiten. Er sei doch nun längst schon ein großes Eichhörnchen! Alle anderen – ja auch die ein Jahr jüngere Paula – bestritten bereits alleine den Weg zur Eichhörnchenschule. Nos Fell lief bis hinter die spitzen Ohren tiefrot an. So oft musste er an Paula denken. Paula. Paula. P.A.U.L.A. Sein Herzschlag erinnerte ihn an eine tickende Zeitbombe. Erst neulich hatte er Paula in der großen Pause beim Seilhüpfen mit ihren Freundinnen beobachtet. Federleicht gewann sie jedes Hüpfturnier; sie hüpfte selbst mit den älteren Jungen aus der 4c, der Sportklasse. Ob No sie wohl heute auf dem Schulweg sehen würde? Seine Mutter schnitt ihm noch zwei Scheiben ihres selbstgebackenen Dinkel-Rosinen-Brotes ab, bevor er sich auf ihren warmen Rücken setzte. Auf diese Weise hüpften sie jetzt schon ein ganzes Jahr zur Schule.

Es wurde ein Schultag wie jeder andere. Zum Glück war jedoch Freitag, sodass No sich auf die zwei kommenden freien Tage freuen konnte. Vielleicht würde er ja dieses Wochenende endlich mit Papa Mandeln finden. Schon letztes Wochenende hatten sie Stunden mit der Suche nach welchen verbracht und vergeblich jedes Blatt in ihren Händen gedreht und gewendet. Doch vergebens: Eine Mandel war ihnen nicht in die Pfoten gefallen. Samstag nun, sie saßen zu dritt am runden Tisch und genossen den Geschmack von Mamas berühmtem Pflaumenmuß, verkündete Papa, dass er heute mit No das Hüpfen und Fliegen üben wolle. Nos Kopf drohte gerade im Pflaumenmuß zu versinken, als Mamas Stimme ihn zurück in die Realität holte: „No, schau, ich habe immer gearbeitet. Meine Arbeit macht mir Freude. Und es ist nur gerecht, dass auch ich etwas zu unserem Lebensunterhalt beitrage.“ Es wurde ein langer, langer Tag. Viele Stunden zeigte ihm Papa die beste Körperhaltung für alle potenziellen Flugtechniken. Ob kurzer Sprung oder Gleitflug, No musste jede Technik probieren. Er sprang jedoch nur in die Höhe, nicht weg vom Platz. Sich von der Luft vollständig umhüllen zu lassen, seinen Platz nahe seinem Vater zu verlassen, das traute er sich nicht. Papa hatte viel Geduld. Wirklich. Müde, erschöpft und auch ein wenig verzweifelt kroch No abends in sein kuscheliges Walnussbett.

In Nos Traum tauchten Bilder auf. Er sah zwei grobe Formen. Sie kamen immer näher. Er erkannte zwei braun-rote Körper. Zwei Eichhörnchen − daran bestand kein Zweifel. Plötzlich war das Bild zum Greifen nah. Das war No, ja, das war er ja selbst, der da in der Luft zu sehen war. Etwas pochte stark in seiner linken Brust. Er flog. Er flog in der Luft. Ohne Mama. Und neben ihm? Sein Herz drohte aus der Brust über den Hals hinaus aus seinen Ohren zu springen. Neben ihm erkannte er Paula. Sie lächelte ihn, den Kopf seitlich neigend, an. Ihr Fell glänzte kupferfarben in der sanften Abendsonne, die letzten Sonnenstrahlen vergoldeten die kleinen langen und vor allem feinen Härchen an ihren Ohren. Die beiden Köpfe bewegten sich aufeinander zu. In der Luft schwebend berührten sich ihre Nasenspitzen. „Ein Luftkuss!“ No riss die Augen auf, saß kerzengerade in seinem Walnussbett und strahlte. Er hatte sie geküsst! Er hatte sich nicht nur in die Luft gewagt, er hatte sogar einen Luftkuss bekommen. Von Paula. P.A.U.L.A. Etwas reifte in ihm an. Ein paar Stunden später, als er aufstehen musste, wusste er ganz genau, was da in ihm herangewachsen war: es war Mut. Er wollte springen und fliegen. Und Paula küssen. Er wollte einen Luftkuss. Nicht für die Luft, sondern für Paula. Er beeilte sich, aß in Sekunden die morgendliche Schale Haselnussbrei auf. Den Schwanz hatte er sich bereits im Zimmer gebürstet. Er war soweit. „Mama, ich hüpfe heute alleine in die Schule!“ Verdutzt guckte seine Mama ihn an. „Aber…“ Er konnte sie verstehen. Wer außer ihm konnte sich seinen plötzlichen Mut erklären? Wer hatte den Luftkuss mit Paula gesehen? „Dann lass und bis zum siebten Ast gemeinsam fliegen, ja?“, fragte No seine beunruhigte Mutter. Sie verließen ihre Baumwohnung und schon den ersten Absprung absolvierte No mit Bravour. Seine Mutter flog ihrem Sohn stolz hinterher. Spätestens am vierten Ast war sie sich sicher, dass No alleine weiterfliegen konnte. Sie drückte seine Stirn kräftig an ihre Nase. „Sei vorsichtig, ja?“ „Na klar, Mama!“, antwortete No, der sah, dass seine Mama auch sehr glücklich war. Jetzt konnte sie endlich wieder arbeiten gehen. Am Walnussbaum angekommen, dort, wo er mit seiner Mama schon häufig auf Paula getroffen war, machte er eine kurze Pause. Er schaute nach links und rechts, doch er konnte Paula nicht sehen. Gefühlte zehn Minuten wartete er. Als er jedoch den letzten Ruf von Pieper vernahm, der den Beginn des Schultags verkündete, beschloss No, sein Warten aufzugeben. Vielleicht traf er Paula auf dem Rückweg. Oder bald. Morgen war auch noch ein Tag.

Die ganze Woche über hatte No jeden Morgen am Walnussbaum gewartet. Nun war wieder Wochenende und er saß enttäuscht mit Mama und Papa am Frühstückstisch. Selbst das Pflaumenmuß schmeckte ihm heute nicht, und auch Papas Vorschlag, eine weitere Mandelsuche zu unternehmen, konnte ihn nicht erfreuen. Es wurde – wieder − ein sehr, sehr langes Wochenende. Am Montag traf No zufällig auf eine von Paulas Freundinnen vom Seilhüpfen. Sie erzählte von ihrem Wochenende. Doch No hörte ihr gar nicht zu. Er überlegte, ob er sich trauen sollte, die Freundin nach Paula zu fragen. Doch hierfür hatte er − im Gegensatz zum Fliegen − noch keinen Mut. „Am Sonntag habe ich Paula besucht. Ich hatte ihr extra fünf Mandelkerne…“ „Waaaas?“, schoss es aus Nos Mund hervor. Hatte er gerade wirklich P.A.U.L.A gehört? „Ich war Paula besuchen“, wiederholte Paulas Freundin. „Sie hat sich doch letzte Woche den Fuß verstaucht. Ihr geht es aber schon wieder besser. Morgen darf sie wieder in die Schule.“ No war überglücklich. Der Tag verging im Nu. Immer wieder erinnerte er sich an seinen Traum vom Luftkuss.

Der Walnussbaum. Es war soweit. No war heute noch früher aufgestanden als sonst. Sein Herz drohte wieder zu einer tickenden Zeitbombe zu werden. Vorsichtig, von seiner Neugierde getrieben, schaute er nach links. Da saß sie. Da saß Paula. Sie setzte zum Sprung an.

 

(Foto: http://www.berlinfreckles.de/wp-content/uploads/2013/03/wandtattoo_eichhoernchen_detail.jpg)