fühlt // 06.02.2013

Das asiatische Käsekuchenkind

 Eine befremdliche Begegnung

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Der öffentliche Nahverkehr spannt zugegebenermaßen ein Netz, in welchem man sich − wie in einem Labyrinth – leicht verirren kann; er flechtet  jedoch vor allem ein Begegnungsnetz, das Subjekte aller Altersgruppen und Einkommensklassen dieser wie jeder Großstadt sekündlich beim Aufeinandertreffen in meist verfehlter kommunikativer Grundhaltung auflachen, -stöhnen und -schreien lässt. Bei vielen Bus- und Bahnfahrern stellt sich jedoch mit Betreten zweitklassiger Taxiwaggons auch eine reine Beobachterhaltung ein. Still nutzt man die 11,36 Minuten Bahnfahrt von Hasselbrooklyn bis zum Dammtor-Boulevard zum Lesen in Gesichtern, zum Aufstöbern veralteter Außenreklame, zum imaginären Schreiben ebenjener Geschichten, für die es zum Stift- und Papierzücken gewaltig an Armfreiheit mangelt. Da das hier schreibende Beobachteraugenpaar seinen Weg zur Uni seit einiger Zeit auch als seinen Arbeitsweg titulieren kann, fällt doch am besagten Startbahnhof ein jeder neuer Fahrgast auf. Er fällt besonders dann auf, wenn er klein und niedlich ist. Er fällt noch mehr auf, wenn sein Käsekuchen mir auf meine weinroten Wildlederpumps zu fallen droht. (!!!)

Ein kleiner Asiatenjunge kreuzt meinen Weg hin zum anderen Ende des Bahnsteiges, das ich aus alltäglicher Routine schnurstracks anvisiere. In der Hand hält er jene Gebäck- und Kuchenpappteller, die ob ihrer Materialität meist dazu neigen, sich zu verbiegen und das platzierte Stück Irgendetwas darauf zu verschieben. Vielleicht ist dies als ein Grund zu benennen, wieso der kleine schwarzhaarige Pagenschnittträger so zu schlingen beginnt. Vielleicht ist es auch die pure kindliche Gier und das damit einhergehende Bedürfnis, dem Essen ganz nah zu sein – es anzufassen, es sich genüsslich und spielerisch einzuverleiben… Man bedenke: es war Käsekuchen. Noch Fragen? Ich hatte jedenfalls eigentlich keine. Mich beschlich vielmehr ein Gefühl des sicheren Wissens, dass nun entweder den Käsekuchen ein Kinnabdruck zieren würde oder aber ein Kuchenteil auf dem Kinnvorsprung des Jungen seinen Einzug in das Menschliche zelebrieren würde.

Man geht weiter, steigt in die Bahn ein, bleibt stehen, da man sich sogleich ohnehin den Hintern wieder in Weichschalen deformieren wird, und da steht er: da steht der Junge vom Bahnsteig neben mir. Nicht verwunderlich, meinen Sie? Doch! Er steht da mit einem Reinigungstuch und putzt sich in traditionsbewusster Selbstverständlichkeit jeden einzelnen Finger der kleinen Hand ab! Bewischt sich auch das Käsekuchenmäulchen und sorgt damit für einige groß aufgerissene Augen. Eine befremdende Erfahrung, die umso befremdlicher wird, als das von mir nun als Käsekuchenkind ins Gedächtnis eingeschriebene Wesen auch die Türklinke zu putzen beginnt. Fast will man etwas sagen. Aber wieso? Weil der junge Mann putzt? Weil das Tuch für Hände und Mund benutzt wurde und nun nichts an der Klinke zu suchen hat? Falls Letzteres, wieso fordert man die Frau mit den speckigen Haaren 0,75 Meter weiter nicht dazu auf, sich bitte nicht mit eben beschriebenen Haaren an die Festhaltestange zu lehnen? Wieso reißt man nicht demonstrativ performierend alle Fenster auf, wenn wieder mal Dönerparfum ins Abteil einsteigt und Knobisauce sich auf Sitzflächen einreibt?

Bahnfahren: immer wieder eine Begegnung der Befremdung; verunsichert durch die eigene Verunsicherung. Bitte mehr davon! Wie würde ich wohl reagieren, wenn das asiatische Käsekuchenkind, mir sein Reinigungstuch anbietet, oder gar anfängt, mir die Hände zu putzen? Ist das Reinigungstuch eigentlich das Befremdende? Ist es nicht eigentlich vielmehr der Käsekuchen, der platziert an dem Mund eines Kindes mit offensichtlich asiatischem Hintergrund Stereotype in mir zu brechen versucht? Reinigungstücher werden schließlich in jedem zweiten asiatischen Restaurant nach dem Essen gereicht. Oder nicht? Gibt es eigentlich asiatischen Käsekuchen?