forscht // 12.08.2011

Verwirrungen einer Leseratte

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Kennen Sie es auch, dieses Gefühl, dass so manche Bildung den Geist verwirrt? Da liest man, tauscht sich aus, denkt, man hätte etwas gelernt und dann kommt der Moment, indem man erkennt, dass dieses Wissen verwirrt, man sich im engen Geflecht der Theorien verirrt hat. Gerade habe ich einen solchen Moment – diesen Augenblick des Unglaubens und totaler Hilflosigkeit – erlebt. Ich stand vor meinem Bücherregal, weil ich nicht wusste, wie ich diesen Essay, der auf dem, was wir aus der Lektüre von Tawadas Benjamin-Rezeption „Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch“ und dem theoretischen Aufsatz von Benjamin selbst „Die Aufgabe des Übersetzers“ gezogen haben, fußen soll, schreiben sollte. Ich stand also tatenlos vor meinem Regal, um mich mit dem Anblicken von Bücherrücken, die nach Verlag und Genre alphabetisch, numerisch und farbig sorgsam aufgereiht in Breite, Höhe und v.a. in Fülle dort stehen, abzulenken und blieb mit meinen abgelesenen Augen am schwarzbraunen Billy-Regal mit Aufsatz aus dem schwedischen Kult- und Kaufhaus kleben − genauer gesagt in der fünften Etage, die die Hamburger Lesehefte, Klassiker der Weltliteratur und die Reclam-Heftchen-Sammlung beherbergt. Fünfte Etage, 24stes Buch von links: Madame Bovary von Gustave Flaubert. Klingelringeldingdangdong. Mensch Sarah, Du sagst immer, Du hättest Flaubert gelesen, aber stimmt das überhaupt noch nach dem, was Du über die Bedeutsamkeit des Übersetzers – seine Fähigkeit dem Original einen Königsmantel anzuziehen − in Benjamins Aufsatz gelesen hast? Habe ich womöglich gar nicht Flaubert gelesen? Darf ich wenigstens sagen, ich hätte Flauberts Madame Bovary gelesen, oder muss ich sagen, dass ich Madame Bovary aus dem Französischen von Maria Dessauer (insel taschenbuch) gelesen habe? Verwirrung. „Nur Original ist legal! Nur Original ist legal!“ schallt es schreiend laut in meinem Kopf. Gut, dann habe ich eben noch nie nicht Flaubert gelesen und auch nicht Balzac, Tolstoi, Homer und vieles mehr; nicht gelesen wurden dann auch Shakespeare, Austen, Dickens, Molière, Voltaire und Zola. Von A-Z, von weiß bis schwarz, vom dtv- bis zum Piper-Verlag: überall lassen sich bekannte Autoren finden, die ich nun anscheinend nie gelesen habe. Das zerstört aber gewaltig meine Selbstkonzeption, die sich bisher auf eine kanonisierte Belesenheit gestützt hat. Die Fassade bröckelt. „Nur Original ist legal! Nur Original ist legal!“ Nein, so geht das nicht. Wenn ich nie Romeo und Julia, Don Quixote, den eingebildeten Kranken, Schuld und Sühne und Anna Karenina gelesen habe, dann will ich gar nie wieder lesen und vor allem nicht Literaturwissenschaften studieren! Da ich aber beides möchte, muss ich davon ausgehen, dass ich alle eben genannten Werke im Original gelesen habe. Ist die Übersetzung nun folglich für mich gleichzusetzen mit dem Original? Viele Fragen, noch mehr denken.

Als Antonym zum Original hat sich konsensuell im Volksmund der Begriff der Kopie etabliert, der nun allerdings recht negativ konnotiert ist, da hiermit die Raubkopie assoziiert wird, die rechtswidrig ist, da sie gegen das Urheberrecht, dass das subjektive und absolute Recht auf Schutz geistigen Eigentums in ideeller und materieller Hinsicht umfasst, verstößt. Rechtswidrig sind meine Bücher erst recht nicht. Ergo: ich habe keine Kopien im Regal. Aber was habe ich dann? Angefangen hat das Dilemma vielleicht mit den Römern, die bereits den Auftrag gaben, die griechischen Meisterwerke abzuschreiben, damit mehr Menschen in den Genuss des Lesens von Literatur kommen konnten. Abschriften, Buchdruck, PCs – der Fortschritt der Technik ermöglichte im Verlauf der Geschichte immer mehr und immer bessere Möglichkeiten zur Reproduktion und Distribution von Literatur. Wir Menschen sprechen aber nicht alle dieselbe Sprache, wollen aber dennoch nicht von anderssprachiger Literatur von Sprechern dieser fremden Sprache erzählt bekommen, sondern Werke selber lesen – Übersetzer mussten her, denn die jeweilige Sprache des Originals zu erlernen wäre eine Lebensaufgabe, die es unmöglich machen würde, überhaupt noch zum Lesen zu kommen. Die Arbeit von Übersetzern ist daher nicht hoch genug anzusiedeln, da sie eben auch das, was zwischen den Zeilen verschlüsselt geschrieben steht, übersetzen. Das Übersetzen ist eine Kulturtechnik, die im Gegensatz zum Buchdruck nicht maschinell vollzogen werden kann. Auch wenn man via google Texte übersetzen lassen kann, so fällt auf, dass diese kaum les- und verstehbar sind und nicht das von dem Autoren Intendierte wiedergeben. Trotz dieser Huldigung der Übersetzer fällt auf, dass bestimmte Übersetzungen auch als „schlecht“ betrachtet werden – sie nicht die Einzigartigkeit des Originals übertragen können. Woran das liegt? Ist es überhaupt die Schuld des Übersetzers? Sind manche Texte vielleicht zum Übersetzen ungeeignet? Ist eine perfekte Übersetzung überhaupt möglich, wenn man davon ausgeht, dass keine zwei Menschen die gleichen Vorstellungen von Begriffen haben können? In der Regel ist bei Autor und Übersetzer nicht einmal von einer gemeinsamen Muttersprache als ein Minimal-Konsens auszugehen…Ferner kommt dann auch noch der Umstand hinzu, dass Original und Kopie zeitlich und sozio-kulturell anders bzw. woanders zu verorten sind.

Fragen über Fragen. Es scheint leicht erklärbar, dass Benjamin Übersetzer und Philosoph war; er geht in seinem Aufsatz u. a. davon aus, dass mit dem Original schon beschlossen ist, dass der Mensch keine perfekte Übersetzung  produzieren kann, es aber möglich ist, dass das Original im Medium der Übersetzung fortlebt – die Übersetzung also eine Art Überleben darstellt. In diesem Punkt zustimmend, muss ich aber erwähnen, dass Benjamin der Übersetzung meiner Ansicht nach zu viel Wertschätzung zukommen lässt, ihr eine gewisse Überlegenheit zuspricht; denn da, wo er von dem Original nur als eine Frucht mit Schale spricht hinsichtlich dessen Qualität, spricht er in Bezug auf das Übersetzte von einem Königsmantel in weiten Falten, der der Frucht – um im Bild zu bleiben −  übergezogen wird.[1] Der benjaminsche Übersetzer ist dem Autor des Originals überlegen, schafft es, den Zeitgeist  − den Sprachwandel – zu begreifen, indem er die reine Sprache – eine formumgebende Sprache – entfesselt. Die Arbeit des Übersetzers ist somit von zweifacher Natur, da er die reine Sprache von zwei Sprachen entschlüsselt. Der Übersetzer setzt folglich in der benjaminschen Auffassung dem Original das i-Pünktchen auf, ist die Sahne auf der Torte, das Gelbe vom Ei. Vielleicht liegt es an dieser etwas überheblich wirkenden Metaphorik, dass ich weiterhin sagen werde, ich hätte Flaubert gelesen − ich weiß es nicht. Vielleicht sollte man es wie Tawada machen und u.a. auch eigene Texte übersetzen und die Grenze zwischen Original und Übersetzung in dieser Weise ein wenig durchbrechen und somit aufhebe(l)n.[2]


[1] Vgl. hierzu: Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers. In: ders. Gesammelte Schriften Bd. IV/1, Frankfurt/Main 1972, S. 15.

[2] Mir ist bewusst, dass Tawadas Texte selber auch z. T. von Übersetzern übersetzt worden, aber wer weiß schon, ob sie in ihrer Schreibstube die Texte zuerst in deutscher oder eben in japanischer Sprache geschrieben hat, oder eben variiert?