forscht // 13.08.2011

Die phantastische Welt der Pippi Langstrumpf und ihrer Freunde

Wenn ich Kindern begegne, die ihre Köpfe in einem aufgeschlagenen Buch versteckt haben, mit ihren Nasen den Geruch des Papiers vor ihnen aufsaugen und ihre Ohren eingeklappt haben, komme ich nicht umher, mir den Titel und Autor dieses Zauberdings, dessen Front mir meistens ins Gesicht zu springen versucht, anzuschauen. Dabei stelle ich immer wieder erstaunend fest, dass es meist phantastische Werke sind, die die (Literatur-)Welt der Kinder und Jugendlichen momentan als Kassenschlager – auch an der Kinokasse − dominieren. Tausende Harry Potters mit Tintenherzen, die sich auf eine unendliche Geschichte mit Vampiren begeben, blicken mich an und zwingen mich, an meine frühe Schulzeit zu denken: Fünfte Klasse des CPGs, Deutschunterricht, Vorlesewettbewerb; neun von zehn Teilnehmern lesen etwas aus den Bänden, die von der Brillenschlange mit Narbe auf der Stirn und Besen unter dem Hintern geziert werden, vor, Klein-Sarah hingegen liest  „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Spätestens hier wurde der Grundstein für meine Selbstklassifizierung als Realist(in) hinsichtlich meiner literarischen Vorlieben gelegt, der lange Zeit auch durch einen imaginären Blick in meine Privatbibliothek Bestätigung fand. Eine solche Klassifizierung muss ich nun, da ich die Phantastik in diesem Seminar neu zu definieren gelernt habe und Tawadas Werk mich fasziniert, revidieren: Nicht erst im Hier und Jetzt bin ich für die Phantastik zu begeistern, auch meine Kindheitslesestunden sind bereits von phantastischer Natur gewesen, denn der Phantastik lassen sich eben auch Pippi Langstrumpf, Gullivers Reisen, die Konferenz der Tiere, der kleine Prinz, Pinocchio, Peter Pan oder auch der kleine Nils Holgersson zuordnen, die entweder von mir gelesen worden sind, oder aber über die Mattscheibe vor dem Sandmann – nicht dem phantastischen von E-T.A. Hoffmann − hüpften.

Phantastik entpuppt sich also als ein wesentlicher Bestandteil der Kinder-  und Jugendliteratur. In all den o.g. Werken tritt eine Spannung zwischen dem alltäglich Bekanntem einerseits und dem ungewöhnlich Verstörendem/Unerklärlichem andererseits auf, wobei Letzteres in das Erstere einbricht und somit ein (mit Todorov gesprochen) Spezifikum der Phantastik darstellt: „In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die, die wir kennen, eine Welt ohne Teufel, Sylphiden oder Vampire, geschieht ein Ereignis, das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt.“[1] Phantastische Elemente fordern folglich den Verstand auf, aktiv zu werden − ist es möglich, dass Pippi Langstrumpf wirklich den kleinen Onkel stemmen kann? Wir Erwachsenen wollen eine solche Frage (in idealtypischer Reaktion eines Abendländers, der nicht an das Übernatürliche glaubt,) immer auch sogleich beantworten, was jedoch nach Todorov den „Tod“ der Phantastik mit sich bringt, denn „[d]as Fantastische liegt im Moment dieser Ungewißheit; sobald man sich für die eine oder andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen oder das des Wunderbaren. Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht das den Anschein des Übernatürlichen hat.“[2]

Bezugnehmend auf Todorovs Definition scheint es naheliegend, dass der phantastischen Literatur eben insbesondere bei Kindern eine immense Beliebtheit zukommt, denn Kinder stellen zwar bereits Phänomene infrage, halten es aber − im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen – aus, Fragen offen zu lassen, sie nicht für sich beantworten zu müssen, sie innerhalb des Werkes als eine Art bestehende Ordnung zu akzeptieren, ohne dass ihre reale Welt hierdurch ins Wanken gerät. Kinder sind in dieser Hinsicht Wandler zwischen den Welten, können beliebig oft (und ohne Probleme) von der einen Welt in die andere eintauchen – eine Eigenschaft, die mit Sicherheit auch Yoko Tawada zugesprochen werden kann, da diese ebenfalls zwischen zwei Welten, deren Kultur und Sprache, wandert und sich somit eine kindliche Sicht auf die Dinge − die Welt − bewahrt, auch wenn sie über diese reflektiert bzw. die Reflektionen zum Kerngeschäft ihrer Literatur macht.


[1] Vgl. Todorov, Tzvetan: Eine Einführung in die fantastische Literatur, München, 1972, S.25.

[2] Vgl. Todorov, Tzvetan: Eine Einführung in die fantastische Literatur, München, 1972, S.26.